Überdreht
Spin doctoring, Politik, Medien


überdreht erscheinen viele Entwicklungen in Politik, Medien, Kunst. Wie lassen Bilder, Filme, Kunstwerke, Aktionen eine Reaktion auf die alltägliche Spirale der Absurditäten erkennen? Auch kritische Strategien sind nicht mehr grenzüberschreitend, richten sich nicht mehr 'gegen' etwas, sondern sind z.B. eher 'abgedreht' in ihrer Art, Bekanntes im neuen Kontext zu wiederholen, bis das Ergebnis verrückt erscheint. Wie kann in Wissenschaft und Kunst über solche Verrücktheiten nachgedacht werden? Kann es produktiv sein, selbst überdrehte Denkfiguren zu benutzen?

Ich ist globalisiert, du ist globalisiert, wir ist es. Wo soll man es denn noch übertreiben können, wenn der Erdball von innen umzingelt ist? Wenn wissenschaftlich-technische Grenzüberschreitung im Nano- oder kosmischen Bereich regelmäßig zur bloßen Frage von Entwicklungszeit wird? Das Handbuch der Kommunikationsguerilla empfahl, sich die Strategien der Macht anzueignen, etwa mit dem Konzept Überaffirmation 'dem System' einen übertreibenden Spiegel vorzuhalten: Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, bitte kommen Sie morgen zum Genscreening für die Rentenberechnung! Ihre Bundesregierung. Und bald wird nicht mehr nur Tony Blair Spin doctors beschäftigen, die jede Nachricht regierungsfreundlich drehen und wenden. Schon sind wir unsere eigenen doctors, ganz normal, ohne den Bogen zu überspannen.

Ist der Selbstregulierung zu entkommen, oder sind wir alle Borg? Camouflage ist Mode und Casting die neue Identitätsmaßnahme. Schwul macht cool, und gleichzeitig setzt eine Re-Biologisierung von Geschlechterrollen ein: Warum Männer besser einparken und Frauen besser zuhören können... Aber auch die Ausdifferenzierung, wie sie an der zunehmenden Präsenz z.B. von Transgender-Personen im Nachmittagsfernsehen zu sehen ist, mag in Normalisierung münden: eine unendliche Hase- und Igel-Erfahrung. Die Überschreitung ist netzverteilt, überall per Handy erreichbar, und daher überdreht neu zu promoten. Wann wird überdreht nicht in Normalisierung überdreht?

Wie es heißt, waren die Siebziger kämpferisch, die Achtziger psychoanalytisch und textparadigmatisch, die Neunziger lustbetont und identitäts-queer. Den Bogen zu überspannen war einmal das Feld der Avantagarde/Kunst wie auch des Avantgarde-Films – heute präsentiert Hollywood uns Frauen, die reihenweise Männer vermöbeln, in Blockbustern werden die Katastrophen selbst zu den Stars, und intertextuelle Bezüge stellen ironisch ihre Zitathaftigkeit aus. Auch die Technik dreht immer mehr auf: Digital Special Effects, Multiplexe, Riesenleinwände, Dolby Sensurround... Wenn das Kino selbst schon überdreht, brauchen wir dann überhaupt noch überdrehte Lektüren? Ist Camp obsolet geworden oder war das sowieso nur eine Praxis der normalisierenden Selbstregulierung? Spielen auch feministische Filmwissenschaft und Queer Theory mit im Getriebe? Wo und wie verstören uns Filme heute? Bei welchen Bildern gehen uns die Augen über?

Auch wenn Kritik nicht behaupten kann, einen Ort außerhalb des Systems zu besetzen, gibt es doch Gründe, um – bei aller Verstrickung – 'dagegen zu sein'. Wir kennen Mimikry und fallende Quoten (und nichts gegen Gender Mainstreaming). Es ist Zeit für neue Agitprop-Strategien, ein eigenes spinning, dessen Eigen zur Debatte steht.

Die Techniken der neuen Gouvernementalität des Selbst zu suchen, ihre medialen Bedingungen und Möglichkeiten auszuloten, sie auf Instabilitäten hin abzuklopfen und die mechanischen und elektrischen Spannungen und Drehungen neu zu besetzen, das ist Ziel der Suche nach überdreht.

In verschiedenen Ausstellungen und Kunstaktionen, einem Filmworkshop und auf einem Symposium werden Werke, Ereignisse, Theorien präsentiert, von denen zu sagen ist: das ist zuviel!