Überdreht
Spin doctoring, Politik, Medien

Filmworkshop, 10. – 12. Dezember 2004

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Anja Streiter
Just be yourself! Which self?
zu »Opening Night« von John Cassavetes

Überdrehen – overshooting: so nennt man es, wenn der Regisseur oder die Regisseurin den Kameramann oder die Kamerafrau anweist, am Ende einer gedrehten Einstellung, wenn die SchauspielerInnen das »Danke!« hören und aufhören zu spielen, die Kamera weiterlaufen zu lassen. Ein Regisseur oder eine Regisseurin überdreht auch, wenn er oder sie scheinbar überflüssiges Material dreht, Einstellungen, Momente, die im Drehbuch nicht vorkommen, die für den Plot nicht wichtig sind, von denen noch niemand weiß, wofür sie gut sein können. Cassavetes überdrehte immer.
Bei den Dreharbeiten zu »Opening Night« wusste die Darstellerin der Theaterautorin, Joan Blondell nicht, wann die Kamera lief oder nicht, wann eine Szene anfing oder aufhörte, ob ihre Kollegen gerade in ihren Rollen improvisierten oder sich privat unterhielten. Gena (Virginia) Rowlands, die die Theaterschauspielerin Myrtle Gordon spielte, arbeitete wie immer so, dass sie zwischen verschiedenen Takes nicht aus ihrer Rolle stieg und sich weiterhin so benahm, wie die von ihr geschaffene Figur. Rowlands verglich sich als Schauspielerin oft mit einem Medium, mit jemanden, der Geister in sich beherbergt. Myrtle Gordon soll in dem Theaterstück im Film eine Frau spielen, die Virginia heißt und über die die alte Autorin des Stückes sagt, dass ihr Problem ist, dass sie alt wird. Da bekommt Myrtle Besuch von einer jungen Frau, ihrem imaginierten Alter Ego, das nicht sterben will.
Fr. 10.12. | 20.00

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Winfried Pauleit
The Reconsidered reconsidered.
Mary Ann Doanes feministische Theoriearbeit zwischen Standbild und Bewegungsbild

Mary Ann Doane hat in ihren Ausführungen zu Film und Maskerade eine implizite Theorie zur Re-Lektüre von Filmen anhand von Fotografien bzw. Filmstandbildern vorgelegt. Dieses Verfahren funktioniert etwa analog zu einer fixen Idee beim »Schizo«, wie sie beispielsweise von Deleuze und Guattari gedacht wurde. Die fixe Idee setzt dabei einen Flow von assoziativen Gedanken frei, die die bekannte(n) Geschichte(n) neu strukturieren. Doane skizziert also ein Verfahren für die ZuschauerIn, mit dem anhand von Standbildern die Film- und Kinoerfahrungen umgeschrieben und neu strukturiert werden können.
Sa. 11.12. | 10.00

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Sabine Nessel
Geschlecht und Ereignis
Feministische Filmtheorie weitergedacht am Leitfaden von »Twister«

In der Geometrie des Kinos der Geschlechterdifferenz der 1970er und 1980er Jahre gilt der aktive männliche Blick als zentrale Kategorie. Er durchmisst den dunklen Kinoraum aus verschiedenen Richtungen. Marlene Dietrich sitzt auf der Tonne und singt, von männlichen Blicken umgeben. Aus dieser speziellen Ordnung der Filme von Josef von Sternberg/Marlene Dietrich hat die feministische Filmtheorie ihre theoretische Geometrie abgeleitet. Das Kino der 1990er Jahre kennt keine singende Marlene, noch kennt es eine einfache Entsprechung für die Star Imagos des alten Hollywoodkinos. Nicht ohne Stolz präsentiert es aber eine angeblich neue Generation von Bildern, die nicht mehr filmisch hergestellt werden, sondern per Computer errechnete und designte Effekte, Visual Effects’, sind. Die Stars aus Filmen wie »Twister, Volcano, Deep Impact, The Day After Tomorrow« – den Katastrophenfilmen der 1990er Jahre bis heute – sind Naturphänomene ohne stabiles semantisches Geschlecht und insofern mit Marlene Dietrich, Greta Garbo und Marilyn Monroe nur bedingt vergleichbar. Was das neue mit dem alten Hollywood verbindet, ist allerdings die explizite Zurschaustellung.
Ausgehend von «Twister» soll der Ereignischarakter von Filmen des populären Hollywoodkinos herausgestellt und mit exemplarischen Ansätzen der feministischen Filmtheorie der 1970er und 1980er Jahre ins Verhältnis gesetzt werden.
Sa. 11.12. | 11.00

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Diskussion Perspektiven feministischer Filmwissenschaft
mit Andrea Braidt

Zeichneten sich die Anfänge feministischer Filmwissenschaften und Filmschaffens in den 1970er Jahren dadurch aus, dass sie die narrativen und formalen Strukturen des klassischen Hollywoodkinos radikal in Frage stellten und überdrehten, scheint das Überdrehen im großen kommerziellen Kino mittlerweile selbst stattzufinden: Hollywood präsentiert Frauen, die reihenweise Männer vermöbeln, intertextuelle Bezüge stellen ironisch Zitathaftigkeit aus, Ausrutscher der Technik werden mitinszeniert. Dabei wird die Technik immer übertriebener: Digitale Special Effects, Multiplexe, Riesenleinwände, Dolby Sensourround. Um die feministische Filmwissenschaft scheint es dagegen still geworden zu sein. Was kommt nach den kämpferischen Siebzigern, den psychoanalytischen und textparadigmatischen Achtzigern und den Identitäts-verwirrenden und lustbetonten Neunzigern? Taugen die alten Konzepte noch, hat es sich die feministische Filmwissenschaft in Nischen gemütlich eingerichtet, hat sie sich verabschiedet oder ist es an der Zeit für neue Perspektiven, neue Manifeste, neue Theorien?
Sa. 11.12. | 12.30

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Claudia Reiche
Überdrehter Trans – überwundener Mensch?
Zur Geschlechtlichkeit des »Fernsehrauschens« in Hans Scheirls
»Dandy Dust«

Der Film »Dandy Dust« aus dem Jahr 1998 wurde als Antwort auf die Frage nach dem Körper unter den Bedingungen des digitalen Mediums und der Biotechnologie gefeiert – in einer Zeit auch nach der «Frau». Die Auflösungen körperlicher und Gender-Identitäten in «Dandy Dust» galten als wegbahnend für das neue Jahrtausend. Ein geschichtlicher »point of no retur« erscheint jenseits bisheriger Dichotomien von Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Mensch und Maschine, männlich und weiblich – als sei eine Spirale so weit gedreht worden, dass sie gebrochen wäre: Überwindung des »Menschen«! Abgesehen vom Nachgeschmack, der solch naiven Cyborg-Style heute wie eine abgelegte Mode begleitet, steht grundsätzlicher zur Debatte, ob »Dandy Dust« so überhaupt gedeutet werden durfte? Ich möchte alternativ eine andere Konzeption des Überdrehens herausarbeiten anhand einer Interview-Aussage von Hans Scheirl: »The protagonist in Dandy Dust IS the film grain and the Fernsehrauschen.«
Sa. 11.12. | 14.30

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Petra Lange-Berndt
Blut/Farbe
Von der Übertreibung zur Überdrehung im Splatterfilm

Das Spektakelkino des Splatterfilms verbindet entgrenzende Gewalt mit den Überdehnungen und Verdrehungen des Slapsticks. Stand in bisherigen Debatten häufig die Diskussion der expliziten Brutalität im Vordergrund – also die Grenzüberschreitung –, so soll in diesem Beitrag vielmehr gefragt werden, ob diese Filme einen Fundus für überdrehte Strategien darstellen können. Der ausgiebige Einsatz von Kunstblut, also der Gebrauch von Sirup oder anderen klebrigen Farbmitteln als Special Effect, scheint besonders vielversprechend: Wird beim theatralischen Vorgang des exzessiven Schminkens lediglich eine Farbschicht auf die Leinwand des Körpers gelegt, so sind hier vor allem Filme von Interesse, in denen diese äußere Schicht nicht nur durchbrochen wird, sondern in denen sich die Schminke auch von ihrer oberflächlichen Anwendung loslöst und nun, als flüssige, klebrige wie ansteckende Substanz, wiederkehrt und ein Eigenleben entwickelt, eine überdrehte Aktion, die nicht mehr in kausaler Verbindung mit der gewaltsamen Zerstörung von Körpern steht.
Sa. 11.12. | 15.30

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Ute Holl
Schöne Fusion von Licht und Bewegung

Überdreht, überdehnt, umgedreht, Übersprung: Was passiert, wenn es tanzt auf der Leinwand? Bei Asta Nielsen in »Abgrund« steht die Kamera nur da, Lassotanz, der Tanzkörper wird überdehnt, der Raum wird rhythmisch im Blickgewitter. Wie dieser Tanz ist eine ganze Reihe gedreht, die bis Uma Thurman geht. In den haitianischen Trancetänzen bei Maya Deren hingegen wird die Geschwindigkeit der Bolex überdreht (und unterdreht) und das Licht selbst tanzt und löst die Körper auf. Lichttanz. Das geht weiter in die fünfziger Jazzerfilme, taucht plötzlich in »Berlin EckeSchönhauser« sogar in der DDR auf. Wieder anders: Fred Astaire – ertanzt in »Royal Wedding«, um das Zimmer, Wände hoch, die Decke entlang, Schwerkraft weg. Der ganze Raum ist einfach über-kopf-gedreht und die Kamera mit. Das ginge bis »Matrix«, wenn mann will dass die da tanzten. Vortanzen werde ich eine kleine Geschichte der Kinoraumtänze, kopulierender Kulturtechniken, Interferenzen von haptisch und optisch, überdrehen von Hören und Sehen, Höhepunkt des Happy-Ness im Kino und was passiert denn da noch?
Sa. 11.12. | 16.45

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Judith Keilbach
MTV goes crazy
Überdrehte Stars, Grenzen der Normalität und Selbstregulierung auf MTV

»Überdreht-Sein« ist eine zentrale Semantik in den Celebrity Shows auf MTV. (Selbst-)Beschreibungen und Inszenierungen als verrückt und exaltiert, als unvorstellbar reich, extrem sexy, wahnsinnig begehrt usw. tragen zur Aufwertung der Stars bei. Diese Strategie ist jedoch von einer heiklen Ambivalenz gekennzeichnet, denn Stars müssen zwar überdreht sein, gewisse Grenzen dürfen sie jedoch dennoch nicht überschreiten. Wo genau diese Grenzen liegen, wann ein Star »normal« überdreht oder aber endgültig durchgeknallt ist, wird in den Sendungen jeweils ausgelotet. Gleichzeitig zeichnen sich die Celebrity Shows auf MTV auch selbst als überdreht aus und treiben es formal wie inhaltlich erheblich weiter, als die Boulevard-Magazine anderer Sender.
Der Vortrag wird den verrückten Geschichten und formalen Exzessen der Celebrity-Shows nachgehen, wobei gleichzeitig die zutiefst konventionellen Vorstellungen, auf denen diese Sendungen basieren, zu befragen sind.
So. 12.12. | 11.00

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Mira Fliescher
»Den Song schneller hören.«
Mit Ally McBeal das Recht des Post/Feminismus verdrehen

»Ally McBeal« arbeitet am Ort der fiktiven Auflösung der urinalen Segregation der Geschlechter in der Unisextoilette einer Anwaltskanzlei, weshalb Geschlecht und Normalität zu zentralen, evtl. post/feministisch verhandelten Punkten unter den ziemlich verdrehten Figuren der Serie werden – und zum Gegenstand der sich immer weiter drehenden Inszenierung der De/Regulierung und Einklagung des Rechts von absurden Begehren, Verletzungen, Verbindungen und geschlechtlichen Existenzweisen zwischen Gerichtssaal, Bar, Büro und Therapie (die in der ersten Staffel verlangt, den Song schneller zu hören).
»Ally McBeal« steht dabei zwischen der Erzählung der verletzenden Wege der Verrechtlichung von mehr oder minder konservativen, feministischen und/oder queeren Forderungen sowie unbequemen Fragen an ihre (Teil-)Institutionalisierung. Um diesen Song schneller zu hören, dieses Plädoyer zu verdrehen, fehlt der Einspruch der ausgeschiedenen Figuren: Eine Bühne / Serie also für die Frau mit Schwanz und die Transsexuelle aus der ersten Staffel... und was sonst aus dem Rahmen »Ally McBeal« fällt.
So. 12.12.| 12.00

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