Andrea Sick

   

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Die Wechselwirkung von Sehen und Wissen im Paradox des Musters läßt sich noch eingehender entwickeln, anhand einer genaueren Verknüpfung mit Funktionsprinzipen der Mustererkennung in der digitalen Bildverarbeitung.

Erklärtes Ziel der Forschung in der Mustererkennung ist es, die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen zu simulieren; dabei wird davon ausgegangen: Strukturen in Bildern bilden Muster. Die Entscheidung, ob ein Muster ein bestimmtes Objekt darstellt, erfolgt auf der Basis einer ausreichenden Ähnlichkeit mit Bekanntem. Die Frage, wie werden die Muster erkannt, verschiebt sich zu: wie werden die Muster hergestellt und identifizierbar.

In der digitalen Bildverarbeitung und KI-Forschung wird "Muster" für ein einzelnes Merkmal aus einem definierten Problemkreis bezeichnet. Voraussetzung ist, daß es als Funktion von Meßgrößen zu beschreiben ist.[19] Klassen ergeben sich durch Zerlegung des Problemkreises in Untermengen. Bei einer sinnvollen Zerlegung sollen sich die Muster innerhalb einer Klasse ähneln.  Als Bildmuster versteht man – wie schon gesagt - die Regelhaftigkeit der räumlichen Anordnung von Erscheinungen. Zum Beispiel eine kleinparzellierte, mit Sonderkulturen bestandene Agrarfläche weist ein ganz anderes Muster auf als eine Getreidelandschaft oder ein Weidegebiet. Eine Serie von Standwällen zeigt ein typisch streifiges Muster, das sich deutlich von dem weitflächigen Muster einer Mangrove oder Schwemmlandebene absetzt. Gewässernetze, Kluftnetze, bestimmte Oberflächenformen und Vegetationsformationen sowie geoökologische Einheiten bilden typische Luftbildmuster. Entscheidend ist: Das  Muster dient zur Abgrenzung von Raumeinheiten; denn wiederkehrende gleiche oder ähnliche Muster sind meist ein Hinweis auf einen "ursächlichen" Zusammenhang und können Regionen bilden, Problemkreise strukturieren und topologische Verhältnisse ermöglichen.[20]

Für das "maschinelle Sehen" gilt: erkennen aus Bildern bedeutet, "einzelne Objekte", welche sich in einem Raster aus vielen Bildpunkten bilden, zu entdecken. Dabei wird von dem Ordnungsprinzip der Nachbarschaft ausgegangen, welches folgende Kriterien zur Erkennung bestimmt: Kanten und Konturen, Texturen, Farbe, Abstand und Bewegung.[21] Diese Kriterien sind auch für die drei unterschiedlichen Methoden der Mustererkennung entscheidend: die Klassifizierung von einzelnen Pixeln auf Grund von extrahierten Merkmalen (z.B. spektrale Merkmale), das Zusammenfügen und Generalisieren von komplexen Mustern durch Auswahl von sogenannten Muster-Primitiven auf Grund von Regeln und das Beschreiben der Muster durch ein Regelsystem der formalen Logik mit einem Wenn/Dann-Teil, d.h. mit automatischen Schlußfolgerungen, die sich aus Fakten und Zuständen ableiten.[22]

Deutlich wird an den drei Verfahren, die ineinandergreifen, daß sie allesamt die Paradoxie des  "Musterpinzips" aus der Doppelbewegung des "sich Zeigens" einerseits und des "Verweisens" andererseits nicht umgehen können.[23]

Die Nachbarschaften regionalisieren die Muster, die als Vergleichs- bzw. Entscheidungsgrundlage für Muster gelten. Wir entscheiden auf Grund der Muster-Wiedererkennung nach Ähnlichkeiten, ob ein Muster ein bestimmtes Objekt darstellt. Diese Entscheidung folgt auf der Basis einer ausreichenden Ähnlichkeit mit bekannten Mustern. Um Ähnlichkeiten festzustellen, d.h. serielle Verfahren rekonstruieren zu können,  müssen Vergleichsgrundlagen sortiert und klassifiziert (in symbolischer Form) vorliegen – als Vorlage. Es ist ganz einfach:  Muster müssen vor Mustern sein.

Das setzt voraus: das Muster funktioniert nicht nach Prinzipien der Nachahmung. Hiervon geht auch Derrida in seiner Lektüre zu Kants "Kritik der Urteilskraft" aus. Er schreibt in "die Wahrheit in der Malerei": "Von daher kann das oberste Modell, das höchste Muster nur eine Idee sein, eine einfache Idee, die jeder in sich selbst hervorbringen und nach dem er alles beurteilen muß was Gegenstand von Geschmack ist. Es bedarf eines Muster, aber ohne Nachahmung. So ist die Logik des Exemplarischen, wobei der metaphysische Produktionswert immer die doppelte Wirkung hat, die Historizität zu eröffnen und zu verschließen."[24] Die Doppelbödigkeit, die Derrida hier für das "Exemplarische" bzw. die exemplarische Produktion in Bezug auf ein Geschmacksurteil entwickelt, ist analog lesbar zu dem, was von mir als "Paradox des Musters" bezeichnet wird. Derrida schreibt weiter: "Die Selbsthervorbringung des Musters (Schablone, Paradigma, Parergon) ist die Hervorbringung von dem, was Kant Idee nennt (...)".[25] Das Muster  als Schablone, Paradigma oder Parergon, stünde hier in der Logik eines "Exemplarischen" mit doppelter Wirkung dessen Effekte sich in der Doppelbewegung von "zeigen" und "sich zeigen" äußern. Hierfür bedarf es eben "Muster ohne Nachahmung" oder anders formuliert: eines "obersten Modells". Dieses wäre auch als ein Maximum (Allgemeines, Höchstes) zu bezeichnen, welches selbst eine Paradoxie in sich birgt, denn es kann wie Kant sagt, nur in einer einzelnen Darstellung vorgestellt werden. Es wird in einem Exemplarischen (Muster) hervorgebracht.[26] Ein Muster wird immer vom Muster bestimmt sein. Eine Serie sucht immer nach den Exemplaren. Denn um Muster zu erstellen und Serien zu entwickeln, müssen sie– die Muster– erkannt werden als Muster. Das heißt: das Muster wäre stets in Serie. Insofern kann man auch sagen, das Muster operiert an der Grenze der Repräsentation. Genau hier kommt das Paradox des Musters zur Wirkung. Ich möchte jetzt noch genauer herausarbeiten, was Kant und mit ihm auch Derrida und Lyotard als das Exemplarische bzw. das höchste Muster entwerfen und inwiefern dieses die Operation der Mustererkennung an der Grenze der Repräsentation bestimmt.

Lyotard findet das "Erhabene" bei Kant als Motiv und Gefühl, welches den Widerstreit initiiert und an der Grenze der Repräsentation steht, eher gesagt die Grenze selbst ist. Die Grenze oder der Widerstreit zeigen die "undarstellbare Präsenz des Absoluten" an, wie es Lyotard formuliert. Werden gewissermaßen die Schranken der Einbildungskraft gesprengt und "eine Darstellung des Unendlichen"[27] versucht, endet dieser Versuch in einer "negativen Darstellung"[28]. Sie ist, wie es Lyotard weiter formuliert, negativ im Hinblick auf das Sinnliche, aber doch zugleich ein Darstellungsmodus, "eine Darstellungsart". Kant schreibt: "(...) denn die Einbildungskraft, ob sie zwar über das Sinnliche hinaus nichts findet, woran sie sich halten kann, fühlt sich doch auch eben durch diese Wegschaffung der Schranken derselben unbegrenzt: und jene Absonderung ist also eine Darstellung des Unendlichen, welche zwar eben darum niemals anders als bloß negative Darstellung sein kann, die aber doch die Seele erweitert."[29] Lyotard bezeichnet diese Struktur als "Präsenzmodus des Absoluten"[30]. Das spezifische an diesem Modus sei, daß er "zurückgenommen" oder"abgezogen" ist und daß die Darstellung, die er liefert in einer"Absonderung" oder"Abstraktion" besteht. Abgesondert ist das Dargestellte, weil es einen Sonderstatus hat, der das normale Maß überschreitet, da es von der Einbildungskraft abfällt. Lyotard schreibt:"‘Die negative Darstellung‘ ist in diesem Sinne nur die Demonstration, daß die Forderung, das Absolute darzustellen, sinnlos ist. Indem sie von den ihr eigenen Grenzen der Darstellung absieht, deutet die Einbildungskraft die Präsenz dessen an, was sie nicht darstellen kann. Sie entgrenzt, entfesselt, entzieht sich dabei aber ihrer eigenen Zweckmäßigkeit."[31]

Diese "abgezogene Darstellungsart, die in Ansehung der Sinnlichen gänzlich negativ wird"[32], kann im Kontext der Vergleichung gedacht werden, wie sie mit dem kantschen Erhabenen konstituiert wird.

 
 

 

   

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