"Jede Photographie von Personen ist gemacht, um dieselben darauf wieder zu erkennen" – Das fotografische Porträt und die Idee der Identifizierbarkeit
Das Foto als "Identitätsausweis"
Identifizierung im kriminologischen Sinn bedeutet das "Wiedererkennen einer Person oder Sache an Hand von unverwechselbaren Merkmalen. [...] Als Maßnahmen sind aufgezählt Lichtbilder, Fingerabdrücke, Messungen und ähnliche Maßnahmen. Eine ähnliche Maßnahme ist z. B. die Fixierung des Klanges der Stimme auf Tonband […]. Zulässig ist auch das Zurückfärben der Haare in ihre natürliche Farbe, das Entfernen des Bartes [...]" – so die Definition eines Kriminalistik-Lexikons aus dem Jahr 1996 (Burghard 1996, 145).
Im folgenden soll das "Lichtbild" – oder genauer: das fotografische Porträt – und die diesem zugeschriebene Funktion als "Identitätsausweis" zur Diskussion stehen. Ich möchte zum einen einige Aspekte des historischen und medienhistorischen Kontextes beleuchten, durch den die Fotografie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als identifikatorisches Verfahren etabliert wurde. Zum anderen möchte ich einige Beispiele aktueller künstlerischer Praxis vorstellen, die auf Regularien des fotografischen Porträts zurückgreifen, und sie in diesem Kontext untersuchen. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern die künstlerischen Arbeiten als Interventionen in dieses Netzwerk der medialen Zuschreibungen und Mechanismen – das seine Relevanz bis heute nicht grundsätzlich verloren hat – gelesen werden können.
Es geht mir um eine Annäherung an die Strategien, mit denen der "Kunst" zugerechnete Fotografie in der Zitation historischer Verfahrensweisen die Funktion des fotografischen Porträts als "Identitätsausweis" sowie die Bedeutung von "Identität" selbst als einer einheitlichen, kohärenten und essentialistischen Größe zur Diskussion stellt. Oder anders gesagt: Wie reflektieren die aktuellen Arbeiten auf das, was bereits in den historischen Diskursen fortlaufend Gegenstand der Auseinandersetzung gewesen ist?
Prozesse und Formen des Seriellen betreffen die Fotografie hier zunächst auf drei Ebenen: Erstens hinsichtlich ihrer vermeintlichen Abbildhaftigkeit im Sinne einer Reproduktion – oder auch einer 'Wieder–holung' – von "Realität", die durch das technische Verfahren der optischen Aufzeichnung verbunden mit der Möglichkeit einer chemischen Fixierung evoziert wurde. Zweitens in bezug auf die Möglichkeit der unbegrenzten Vervielfältigung eines Bildes durch das von William Henry Fox Talbot entwickelte Negativ-Positiv-Verfahren, das auch "Voraussetzung für den Einsatz der Fotografie als Massenmedium" (Schade 1996, 70) war. Und drittens im Hinblick auf eine gleichförmige Inszenierung fotografischer Bilder; dies meint die Modi des Zu-Sehen-Gebens– von tradierten Darstellungskonventionen bis zu fest vorgegebenen Standardisierungen.
Das Porträt – so schreibt John Tagg – sei ein Zeichen, dessen Zweck sowohl die Beschreibung einer individuellen als auch die Einschreibung von sozialer Identität ist (Tagg 1993, 37). In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Fotografie das Medium, mit dem sich das bürgerliche Subjekt einen 'Spiegel seiner selbst' verschaffte.[1] Zugleich diente sie der Dokumentierung und Katalogisierung sogenannter "devianter Subjekte" – dazu gehören "Irre" und "Hysterikerinnen", Insassen von Erziehungsanstalten, Obdachlose und Kriminelle. Insofern war die Fotografie nicht unwesentlich an der Konstruktion des Anderen – des Auszuschließenden, des Kranken und Minderwertigen – beteiligt, gegen das sich eine bürgerliche Gesellschaft zu konstituieren suchte.[2] Das Bild des "Verbrechers" war das Gegenbild des "gesetzestreuen Bürgers"[3] in einer auf Besitzstand und Besitzrechten basierenden kapitalistischen Gesellschaft, die es zu schützen und zu verteidigen galt. In diesem Sinn verbinden sich in der Porträtfotografie – wie Allan Sekula darlegt – die Sphäre von Kultur und die Sphäre sozialer Regulation; hier zeige sich am deutlichsten die Doppelfunktion des Mediums im Feld der Repräsentation als "honorifically and repressively" (Sekula 1989, 345f.).
In der diskursiven Überlagerung der fotografischen 'Fest-Stellung' von individueller/sozialer und "normaler"/"abweichender" Identität meint "Identitätsausweis" hier ebenfalls ein Doppeltes, an das sich die Idee der Identifizierbarkeit knüpft: zum einen richtet er sich auf das einzelne Subjekt, indem "Identität" zwischen einer Person und ihrem Bild im Sinne einer Ähnlichkeit garantiert wird;[4] zum anderen bezieht er sich auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die an äußeren Merkmalen der abgebildeten Person erkennbar werden soll. Dem Foto wurde damit eine Beweiskraft zugesprochen, die in den zeitgenössischen Diskursen einerseits immer wieder behauptet und andererseits immer neu zur Diskussion gestellt wurde.[5] Angesichts dieser von Ambivalenzen und Paradoxien gekennzeichneten Debatten argumentieren John Tagg und Allan Sekula, daß die Einsetzung und Funktion der Fotografie als Teil eines "Wahrheitsapparates"[6] gesehen werden müsse, der nicht auf das optische Modell der Kamera reduziert werden kann. Die Instituierung der fotografischen Beweisfähigkeit im späten neunzehnten Jahrhundert stehe – so Tagg – in unmittelbarem Zusammenhang mit den grundlegenden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Veränderungen, die sich seit dem achtzehnten Jahrhundert vollzogen haben (vgl. Tagg 1993, 70f.) und die Michel Foucault als "Formierung der »Disziplinargesellschaft«"[7] beschreibt. Anders formuliert: Die fotografische Evidenz – und damit auch die "Ähnlichkeit" – wurde hergestellt im und durch das Zusammenwirken der neuen Repräsentationstechniken, neuer Technologien der Überwachung, ihren assoziierten Institutionen und den sogenannten Humanwissenschaften.[8]
Das Archiv
Ich möchte an dieser Stelle eine weitere Figur des Seriellen einführen: das Archiv. Das Modell des Archivs, wie es sich im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts herausbildete, umfaßte nach Allan Sekula das gesamte soziale Terrain, indem es die Individuen eben darin positionierte. Es meint sowohl eine abstrakte paradigmatische Größe als auch eine konkrete Instanz und basierte auf der Vorstellung, daß die Oberfläche des Körpers – vor allem Gesicht und Kopf – äußeres Zeichen eines inneren Zustands sei. Diese Auffassung wurde von einer positivistisch-materialistischen Wissenschaft des Selbst – vor allem von der Physiognomik und der Phrenologie befördert. Als komparative und taxonomische Disziplinen, die die gesamte Bandbreite menschlicher Verschiedenheiten zu dokumentieren suchten, stellten diese Wissenschaften – so Sekula – jedoch das Archiv erst her, das sie vermeintlich 'nur' interpretierten. Mit der Erfindung der Fotografie überkreuzten sich der physiognomische Code der visuellen Interpretation von Körperzeichen und eine Technik der mechanisierten visuellen Repräsentation. Dieses System von Interpretation und Repräsentation versprach die Herstellung einer umfassenden Ordnung von Körperbildern, die sich im Spannungsfeld von Identischem und Differentem formieren sollte (Sekula 1989, 347 – 352).
Das konkrete Fotoarchiv ist Teil dieses größeren Archivs und artikulierte sich insbesondere in der Verknüpfung einer sich professionalisierenden und der neuen Techniken bedienenden Polizeiarbeit und der Konstituierung der Kriminologie in den 1880er und 1890er Jahren. Für die Archivierung des kriminellen Körpers analysiert Sekula zwei semantische Linien, die zwar in letzter Konsequenz nicht voneinander separiert werden können, aber sehr deutlich unterschiedliche Schwerpunkte setzten: die Individuierung oder Singularisierung, mit der sich der Name Alphonse Bertillon verbindet, und die Typologisierung, für die der Name Francis Galton steht. Beide Richtungen führten "the universal mimetic language of the camera" und "the universal abstract language of mathematics" – Optik und Statistik – zusammen (Sekula 1989, 352). Bertillon versuchte, das Individuum aus einer Spezies zu extrahieren; der "Typus" stellte dabei ein Hilfsmittel dar, um die Beschreibung des Individuums zu verfeinern (Sekula 1989, 362). Galtons Bemühen war es, das "Repräsentative" einer Spezies herauszustellen (Sekula 1989, 352f.), wofür die Porträts von Individuen die Voraussetzung waren. Galton wollte die "purely optical apparition of the criminal type" (Sekula 1989, 353) konstruieren, während Bertillon von vornherein mit der Kombination von Sprache und Bild als einander ergänzende Medien arbeitete.
Ich gehe zunächst auf Galtons typologisches Konzept ein und konzentriere mich dann auf Bertillons Ansatz. An den künstlerischen Arbeiten, die ich dazu in Beziehung setzen werde, interessiert mich insbesondere, wie Prozesse der Bedeutungszuschreibung an das fotografische Bild und das Medium Fotografie selbst reflektiert werden.
Composites
Francis Galton – hauptsächlich als Begründer der Eugenik und der Erblehre bekannt – ging von der Annahme aus, daß die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse oder Gruppe rein biologisch determiniert sei und an der äußeren Erscheinung abgelesen werden könne. Mit der Composite-Fotografie entwickelte er eine Technik, die das "Typische" einer bestimmten Gruppe herausfiltern sollte– physiognomische Merkmale, die alle dieser Gruppe zugeordneten Individuen vermeintlich gemeinsam hätten (vgl. Sekula 1989, 353). Das Frontispiz seines 1883 erschienenen Buches "Inquiries into Human Faculty and Its Development" visualisiert einige dieser Kategorien– neben Familie und Gesundheit stehen Krankheit(en) und Kriminalität.