Sigrid Nieberle

   

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Knopfdruck.

Serialität und Kitsch in computergenerierten Texten

 

 

Im World Wide Web findet sich mittlerweile die aufregende Möglichkeit, literarische Texte "selbst" und zugleich "maschinell" zu erstellen. Ist dieses Prinzip der Textproduktion auch keine originäre Erfindung im Internet (denn Textautomaten sind spätestens seit dem Surrealismus und den ersten Generatoren auf Computerbasis in der literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskussion präsent), so wirft der schnelle und popularistische Zugriff auf poetische Kompetenzen dennoch neue Fragen auf. Ein Unbehagen an computergenerierten Texten könnte sich breit machen: Wie sind diese Texte zu beschreiben und zu bewerten? Handelt es sich um kanonkritische Novitäten, um künstlerisch wertlosen Kitsch oder um die mediale Avantgarde? Die literarhistorische und formale Nähe zum permutativen Gedicht,[1] zur konkreten Poesie, zu Dada und buchstäblichen Schüttelreimen ließe sich ohne Umstände rasch herstellen und diskutieren. Als Unterscheidungskritierium für die computergenerativ geschriebenen Texte dient die deren spezifische Darbietungsform im Internet. Dieses Spezifikum meint zuallererst und hauptsächlich die Kontextualisierung im Feld der Serialität.

 

 

Die Taste der Wiederkehr

"Gesten sind Körperbewegungen, in denen sich das Dasein äußert. Man kann aus ihnen lesen wie der Gestikulierende in der Welt ist (...)"[2]

 

Die wichtigste Taste auf der Computertastatur, die diese zunächst von einer Schreibmaschinentastatur oder dem Rechenschieber abgrenzt, ist die Return- oder Enter-Taste.[3] Dieser Operator stellt den first contact zur eigenmächtigen Größe des Computers her. Mit diesem Knopfdruck wird, anders als wenn einzelne Finger einen Körper berühren oder sich – in einer größeren Geste – eine ganze Hand therapeutisch auflegt, eine finale Programmroutine, ein Befehl, ein Kommando ausgelöst.[4] Computern fehlt bekanntlich die wahrnehmungsästhetische Dimension der taktilen Sinnesreizung, denn es ist der Maschine gleichgültig, ob BedienerInnen sie sanft antouchen oder auch wutentbrannt dreinschlagen. Für diese selbst ist das hingegen alles andere alles irrelevant, wie der Terminus der "Teletaktilität" für den virtuell-mechanistischen Hautkontakt nahe legt.[5] Niemand würde bei einem Computer wie bei Tasteninstrumenten argwöhnen, dass es sich um etwas anderes als Befehlsanordnungen handelt (z.B. um die Erzeugung eines "beseelten" Tons), und niemand würde hier auf die Idee kommen, an die Diskurse des 18. Jahrhunderts anzuknüpfen und zu fordern "aus der Seele muss man tippen", "aus der Seele muss man hacken". Wenn sich die Diskurse dahingehend verschoben haben, nicht mehr die einzelne individuelle Geste zu benennen und einzufordern, sondern gerade deren serielle Bedingtheit zu betonen, dann muss es auch möglich sein, diese ihrerseits als serielle Befehlsketten in der Geschichte zu interpretieren. Dass eine Geste des Knopfdrucks sich wandeln kann und gewandelt hat, ist zu vermuten. In der Renaissance beispielsweise ist die gezielte punktuelle Berührung mit dem Finger (allein vor dem technikhistorischen Hintergrund) als göttlich-menschliche Begegnung oder als eine zwischen humanen Körpern zu denken. Michelangelos Deckengemälde in der Sixtina illustriert, wa1rum die Befehlskette Gott-Adam nie funktionert hat, denn göttlicher und humaner Finger berühren sich gerade nicht.[6]

 

Zwei weitere Bilder, in denen eine serielle Geste von Frau zu Frau, genauer: von Schwester zu Schwester inszeniert wird, zeigen, warum der Feminismus immer wieder als Befehlsroutine von Frau zu Frau ausgelöst wurde und deshalb vermutlich entgegen aller postfeministischen statements auch immer wieder sein altes Programm aufnehmen wird.[7]

 

Für seriösere Überlegungen zur Geschichte des Knopfdrucks müsste man sicherlich auch die Mythen der frühen Telegraphie und die Erzählungen des Kalten Krieges mit dem finalen Knopfdruck in Ost und West heranziehen. Zudem ist die Geschichte des Knopfdrucks auch eine Geschichte der Geschlechterdifferenz, waren doch die Bedienerkompetenzen je nach Bedarf, Topographie und Kontext verschieden definiert (z.B. Knöpfe in industriellen Fertigungsanlagen, Motorenanlasser, Staubsauger, Rasierapparate, Mikrowelle usw.).

Derzeit aber drängt sich vor allem die Einsicht auf, dass Benutzer nun nicht mehr die materiellen Knöpfe ansteuern, sondern Symbole auf dem Bildschirm als deren Signifikanten. Die Return-Taste auf der Tastatur wurde für den Großteil aller User vom Mausklick weitgehend abgelöst, und es gibt nicht mehr eine Taste der Befehlsauslösung, sondern viele graphisch bunte und un-bunte Ikonen, die den Usern die dahinter sich verbergende Progammsyntax ersparen bzw. diese systematisch verschleiern.

Mittlerweile also meint der Knopfdruck nicht mehr ausschließlich die punktuelle Berührung zwischen androidem/anthropomorphem Tastorgan und anorganischem Zielpunkt (auch Roboter und Versuchstiere betätigen Knöpfe), sondern vielmehr auch die lineare Fahrt des Mauszeigers gleichsam als verlängertem Tastorgan, das einen Signifikanten auf dem Bildschirm anvisiert. Eine Textmaschine spielt beispielsweise selbst auf ihren eigenen graphisch repräsentierten Knopf an, den nie jemand drücken wird und kann: "Durch Betätigen dieses Knopfes begebt ihr Euch in die Abgründe des elektronischen Intellekts. Möge Euer Selbstwertgefühl nicht darunter leiden. Happy Reiming :-)"[8]

Für rechts- und linkshändige MausbedienerInnen fällt damit jeweils die Geste der Programmauslösung und die ureigenste Geste der Deixis, des deutlichen und dabei autoreflexiven Zeigens auf das eigene Tun, zusammen. Der Knopf aber, der zu drücken ist, wird auf dem Bildschirm repräsentiert, d.h. das Verhältnis von Signifikant und Signifikat ist verschoben auf ein ikonisch-motorisches, das von dem und mit dem Mauszeiger gesteuert wird. Textproduktion und -rezeption sind so, um einen banalen, dafür um so kürzeren Slogan des "Spiegel Spezial" aufzugreifen, ebenfalls verschoben, von Gutenberg und seinen Bleisatz auf Bill Gates und seinen schier unerschöpflichen Symbolvorrat. Oder anders formuliert: Das Bedienen der Maus und der Tastatur schließt zwei Diskursbegründungen und die Namen der Gründerväter kurz.[9]

In diesem Sinn spricht die Web-Autorin Susanne Berkenheger auch vom "mausgesteuerten Autoren", wenn sie als Autorin öffentlich lesen soll, was die Leser/Hörer in ihren Texten anklicken:

"Seitdem sitzen sie in Gedanken oft vor mir, die Leser. Wenn ich schreibe und verlinke, male ich mir aus, wie sie zögern, eilen, klicken, blinzeln und wie sie nebenbei auf die Uhr schauen. Manche Links setze ich für die Schurken unter den Lesern, für die flüchtigen, vagabundierenden, lege Mausfallen aus. [...]"[10]

 

Serialität als spezifisches Phänomen dieser Steuerungs- und Knopfdruck-Gesten nachweisen zu wollen, erübrigt sich, denn immer wieder sind wir genötigt, diese Gesten zu wiederholen: zwar niemals identisch und auch meist nicht in derselben Intention wie das letzte und das nächste Mal (das vermag nur das Programm in seinem wiederholbaren Ablauf), aber als lineare serielle Geste. Dies bedeutet, dass die einzelnen Gesten nicht austauschbar sind, sondern einer logischen Ordnung der Reihung unterworfen sind. Selbst die nützlichen Tasten des "Rückgängig machens" benötigen eine vorgängige Befehlskette, um Sinn und Effekt zu machen. Was soll daran kitschig sein? Zunächst also eine kurze Klärung aus der Begriffswelt des Kitsch.

 

 

Kitsch im epizyklischen Kulturmodell

Die Literaturwissenschaft hat sich erst im Zuge der Trivialliteraturforschung, die mit Ansätzen aus der Sozialgeschichte am Ende der 60er Jahre begonnen und später von struktralen Analysen fortgeführt wurde, mit dem Phänomen Kitsch auseinandergesetzt. Sieht man einmal von polemischen Etikettierungen und provokanten Streitschriften in der Literaturkritik der 50er Jahre ab,[11] dann gibt es frühestens mit den Untersuchungen von Walther Killy zum Deutschen Kitsch[12] und mit Gert Uedings Versuch über Kitsch und Kolportage (so der Untertitel von Glanzvolles Elend)[13] breitere Ansätze, Kitsch als kulturelle und insbesondere literarische Größe zu erfassen.[14] Indem man anfing, von der 'hohen Literatur' abzusehen und sich zu fragen, welche Textmassen eigentlich im 18. und 19. Jahrhundert den viel besprochenen Lesehunger stillten, dann galt alsbald die Literatur der Gründerzeit als historisches Epizentrum der Kitschproduktion. Was immer als Symptom kitschiger Literatur bestimmt wurde, z.B. die Kumulation von Stilmitteln, die Liquidität eines Textes (erzeugt durch zahlreiche Tropen aus den Bildbereichen des "Fließens" und "Wässerns"), die Verarbeitung von Stoffen aus der "häuslichen Glückseligkeit", seine Intentionen zur Weltverbesserung und ‑verschönerung, seine Sentimentalität, eines verband diese zum Kitsch zugehörigen Texte: Sie alle waren zugleich in seriellen Produktionszusammenhängen entstanden. Entweder erschienen sie im Feuilleton der Tages- und Wochenzeitungen oder sie machten den Großteil zielgruppenorientierter und zyklisch erscheinender Zeitschriften, Journale oder anderer Publikationsreihen aus. Diese massenhaft verbreiteten Print-Medien waren bestimmt von ökonomischen Gesetzen.[15]

 

Die Autorin Eugenie Marlitt beispielsweise (Eugenie John, 1825-1887), deren Verkaufsquoten vermutlich nur noch von denjenigen von Hedwig Courths-Maler Anfang des 20. Jahrhunderts übertroffen wurden, war eine der Bestwriter des "illustrierten Familienblatts" Die Gartenlaube (ab 1865).[16] Damit die Verkaufserfolge vollkommen ausgereizt wurden, erschienen Marlitts Romane zunächst als Fortsetzungsserien im Journal und später in Buchform. Was beispielsweise Rainald Goetz derzeit (und einige andere vor ihm) mit seinem Internet-Tagebuch Abfall für alle macht, nämlich bei Suhrkamp als Buch zu verlegen, ist demnach eine bewährte Strategie in Gründerzeiten.[17]

Bereits dem Titel des Bestsellers Im Hause des Kommerzienrates von Marlitt aus dem Jahr 1876 (als Buch 1877)[18] sind die Kategorien Handel, Verkehr und Wirtschaft eingeschrieben.[19] Dieser Roman ist durchsetzt mit ökonomischen Metaphern und Vergleichen, und die Figuren des Romans zeichnen sich implizit und explizit durch ihre polaren Haltungen zum Börsenkrach von 1873 aus. Die Handlung steuert auf die Jahre der "großen Depression" (Rosenberg) mit ihre "Gesinnungsversteifung" bei gleichzeitiger wirtschaftlicher und technologischer Verunsicherung zu.[20]

 

Zwei Frauenfiguren in diesem Roman produzieren Kunst: die eine, die gute und den Weiblichkeitsidealen der Zeit entsprechende (Käthe), komponiert ein singuläres Werk, das im bekannten Verlag B. Schotts und Söhne heimlich gedruckt wird und somit seiner seriellen Vervielfältigung entgegensieht. An einer Professionalisierung ihrer Fähigkeiten aber hat sie selbstverständlich kein Interesse, sie zieht Ehe und Mutterschaft vor. Die andere, die obskure und radikale Frauenfigur (Flora), raucht Kette und produziert dabei Texte ohne Unterlass und ihn Folge; eine Karriere als Schreiberin bleibt ihr jedoch untersagt, weil ihre Texte weder dem Geschmack des Publikums noch den im Text selbst lediglich anzitierten ästhetischen Anforderungen entsprechen. Ihre Werke lassen sich nicht in die Produktionsbedingungen der industrialisierten Gesellschaften eingliedern. Der Roman plädiert demnach mit sehr ambivalenten Argumenten für seine eigene ästhetische Qualität: Denn gerade weil er seriell und massenhaft produziert wurde, muss er den literarischen Anforderungen der Zeit entsprechen. Andernfalls wäre er selbst ungedruckt geblieben. Ist dies eine literarisch-ästhetische Strategie für den Text, arbeitet diese ihrerseits gegen die Autorin Eugenie Marlitt, denn als Text einer Frau kann er entweder nur originär und singulär sein oder die Urheberin selbst entspricht nicht dem gängigen Weiblichkeitsideal. Das Geschlecht der Autorschaft muss also bereits an diesem Punkt in Zweifel gezogen werden, und im letzten Abschnitt wird noch einmal darauf zurückzukommen sein.


Das Fazit aus diesem Beispiel aber hebt auf die Methode der wissenschaftlichen Kategorien ab: Kitsch-, Kolportage- und Schundliteratur ist eine Literatur, die seriell produziert und als Ausschuss in einem linearen Kulturmodell etikettiert wurde. Literatur auf Knopfdruck, d.h. in seriellen Produktions- und Publikationsverfahren erzeugte Literatur, ist der Unwert, der Abfall des selektiv strengen Kanons. Die serielle Produktion und Publikation von Literatur allerdings ist kein einbahniges Ausschuss- oder Überschussverfahren (das wäre im Sinne eines linearen, historistischen Geschichtsmodells gedacht). Sie ist das Recycling von Informationen, die aber stets in ein epizyklisches Kulturmodell als aufbereiteter Daten-Stau, wieder eingespeist werden.[21]

Vilém Flusser bezeichnet daher den Kitsch als eine der vier Säulen des sogenannten "Zeitgeistes", weil der Epizyklus von Information (als Halbfabrikat) und Des-Information (als Verfallsprodukt) gestört ist und derzeit auch kybernetische Regelungsprozesse nicht mehr helfen können, diesen Epizyklus von Kulturation (Humanismus) und Zerfall (Entropie) in Gang zu halten:

 

"Wir können erstens das Informieren von Halbfabrikaten bremsen, um den Kulturspeicher nicht zu überlasten. Ein weiteres Motiv für eine solche Bremsung wäre, dass die Halbfabrikate sich als nicht unerschöpflich erweisen (Erschöpfung der Rohstoffe und der Energiequellen). Diese Methode heißt 'Wirtschaftskrise'. Zweitens können wir die Lagerfähigkeit der Kultur ausbauen, indem wir zum Beispiel künstliche Gedächtnisse in sie einbauen. Diese Methode heißt 'Informatik'. Drittens können wir den Abfluß des Abfalls in die Natur zurück beschleunigen. Diese Methode heißt 'Ökologie' [...]. Schließlich können wir das Zurückverwandeln des Abfalls in die Kultur regulieren. Diese Methode heißt 'Kitsch' [...]."[22]

 

Auf der anderen Seite dieser Verfallsregulation von Information steht der Fortschritt. Er ist eine Methode, die Einspeisung von Informationen in die Kultur zu beschleunigen. Deutlich ist durch die Trennung der beiden Hemisphären im Epizyklus – Natur-Halbfabrikat-Kultur einerseits und Kultur-Abfall-Natur andererseits – die Wertigkeit, die in einem linearen Kulturmodell traditionalistisch damit verbunden wird. Die Parkbank aus Holz und Metall zum Beispiel, möglichst in kunsthandwerklicher Arbeit gefertigt, hat gegenüber einer Parkbank aus recyceltem Kunststoff, geplant und gegossen in industriellen Fertigungsanlagen, einen kulturellen Mehrwert. Im Grunde aber verweist die Parkbank aus Holz nur auf ihren quasi-natürlichen Ursprung (sie erinnert unter anderem! an Wald und an Erz), die Parkbank aus Kunststoff hingegen auf ihre serielle Fertigung und auf die ehemaligen Joghurtbecher und Autoreifen. Das ist Kitsch, und unter funktionalen Gesichtspunkten absolut wertfreier Kitsch.

Darüber hinaus wirkt aber die Faszination von Kitsch, die darin bestehen könnte, nicht nur ein oder zwei Des-Informationen wieder in den aktuellen Informationsspeicher zu füttern, sondern mehrere Schichten des kulturellen Abfalls zu einem Amalgam zu verschmelzen.[23] Je komplexer diese Schichten verarbeitet sind, desto weniger reden wir von Kitsch; je mehr Des-Informationen angehäuft werden, aber dafür als simple Transformation von einer Abfallschicht in die andere organisiert sind, desto kitschiger wirkt die Sache oder der Text. Kitsch findet sich aber nicht nur in der Kunst, vielmehr stehen alle Abfallschichten einer Kultur oder aller Kulturen zur Verfügung, so dass es auch wissenschaftlichen, politischen oder eben literarischen Kitsch geben kann. Indem der Kitsch abgenutzte Des-Informationen recycelt, dabei aber seinerseits dem Vergessen und Zerfall epizyklisch unterworfen ist, entsteht eine faszinierende Spannung, die jedesmal ein neues Zeiterleben vermittelt.

Wie ist nun dieses Wertesystem in der literarischer Kommunikation und im symbolischen Zeichenvorrat zu bewerten? Schließlich leben wir nach Flussers Modell mittlerweile in einer nur noch kitschigen Welt, deren Zeitvektor rückwärts gerichtet ist. Alle Dinge, ausser denjenigen, die explizit entweder als 'natürlich' oder als 'fortschrittlich' markiert werden, sind Kitsch. Und – so argumentiert nicht nur Milan Kundera – selbst Phänomene des Fortschritts, die uns umgeben, erscheinen nach einiger Zeit 'natürlich': Das immer schon Kulturelle wird naturalisiert und ist somit nicht mehr als Kitsch erkennbar. Wir sollten uns also nicht verwundern, denn Kitsch ist überall, wir sind vom Kitsch umgeben und wir richten uns mittlerweile gut ein, auch mitten im recycelten Abfall "glücklich" zu sein.[24]

Für die Literatur kann eine solche Aussage nur insofern zutreffen, als es schwierig ist, über eine mögliche "fortschrittliche" Literatur und über Texte des Recycelns zu sprechen. Spricht ein Text von "Liebe", ist dies eine Information, die längst zur des-informativen Kulturation gehören kann, deshalb aber noch nicht den gesamten Text als Kitsch markieren muss. Hier müssen literarische Verfahrensweisen, überhaupt die Entitäten von Schrift und Sprache, in Betracht gezogen werden, denn es ist durchaus denkbar, dass ein Text keine Des-Information zur Liebe (etwa aus dem 19. Jahrhundert) recycelt, sondern sie bloß zitiert und zugleich durch Kontextualisierung, Verfremdung, Verdichtung, Verschiebung usw. als "fortschrittlichen" intertextuellen Neologismus ausstellt (im übrigen eine literaturtheoretische Selbstverständlichkeit, die jedoch in den aktuellen Diskussionen über die Wertung neomedialer Literatur sowohl von den technikeuphorischen Stimmen zur Web-Literatur als auch in den Klagen der ewigen Kulturpessimisten häufig vernachlässigt wird). Es steht also jedesmal aufs neue zur Debatte, ob ein Text als fortschrittlich zu lesen ist oder ob jene Haltung seine Rezeption dominiert, die gerade affirmative Strategien sucht und somit die Aspekte des Recyclings ignoriert. Somit wird deutlich, dass zum Kitsch auch immer seine Produktions- und Rezeptionsweise mitgedacht werden muss, und dies ist im nachindustriellen, informationsgesellschaftlichen Recyclingmodell die serielle Daten-Produktion und‑Rezeption. Ein Buch kann demnach leicht zum Kitsch geraten, insbesondere durch die Verwendung von Recyclingpapier, einem print-on-demand-Verfahren, der Titelbildauswahl mit und ohne Wiederabdrucksrechten und so fort. Ein gutes Beispiel bietet das sogenannte 'besondere' Buch, das historische Herstellungsverfahren simuliert – handgeschöpftes Papier, Fadenbindung, Goldschnitt, Ledereinband – und vom bildungsbürgerlichen Abnehmer für den eindrucksvollen Bücherschrank in Serie abonniert wird. Über die Texte sagen diese Beobachtungen noch nichts aus, allerdings ist der kitschige Text nicht ohne seine Rahmung, seine Produktion und Distribution, seinen kulturellen Wert und seine Lesart zu verhandeln. Vielmehr noch aber werfen Texte, die von einem Computer generiert werden, Fragen nach ihrer Produktionsweise und nach ihrem Zeichenvorrat auf. Auch in diesem Fall ist Literaturwissenschaft eine dringend notwendig gewordene "Abfallwissenschaft".

 

 

Literatur auf Knopfdruck

Computergenerierte Literatur tauchte gerade dann erstmals im Diskurs auf, als auch der Kitsch als Label von Literaturkritik und Wissenschaft zuerst verwendet wurde. Diese Texte aus den Großrechnern in Stuttgart und andernsorts, die – mit Gerhart Rühm (bereits 1930) gesprochen – keine Gedichte mehr sein sollten, sondern als "ästhetische Texte" oder "Autopoeme" bezeichnet wurden, stellten aber gerade das Gegenteil von Kitsch dar. Ihre mathematisch-kybernetische Kondition schützte vor kumulativem (autorisiertem) Einsatz von Stilmitteln und daraus resultierenden emotionalen Übersteigerungen und einer absichtsvollen Botschaft im lyrischen Text. Mittlerweile sind Textgeneratoren für jederfrau und jedermann im Internet verfügbar, und es werden dort neben den Lyrikgeneratoren u.a. auch Anagramm-, Roman-, Essay- sowie Slogan-Automaten angeboten.

Vilém Flusser prognostiziert in dem bereits erwähnten Beitrag zum Kitsch aus dem Jahr 1984, dass es in der nachindustriellen Gesellschaft keinen Kitsch mehr geben wird, dass die Kulturobjekte sich zu reinen Informationen im Datenspeicher wandeln und deshalb auch kein Abfall als Effekt der Entropie entstehen kann. 15 Jahre nach dieser Prognose und der rasanten Entwicklung des Internet aber lässt sich wohl über den Abfall im Kulturspeicher Internet sprechen. Viele Informationen, die auf toten Links liegen oder sich auf Servern befinden, die niemand mehr abfragt, geraten unversehens zu Des-Informationen. Wie aber verhält sich dies mit Texten, die auf den ersten Blick keinen Autor mehr aufweisen, die aus Informationen im Kulturspeicher Internet generiert werden, die zwar nicht gedruckt, dennoch aber seriell und per Knopfdruck produziert werden? Ist das (im Sinne Flussers) dennoch als Kitsch denkbar? Ich meine ja, denn das Vergessen im kulturellen Gedächtnis schließt immer schon die Notwendigkeit eines Archivs ein, das Vergessenes (und Verdrängtes) komprimiert, so dass es irgendwann wieder erinnert werden könnte.[25] Dieses Erinnern ist im Sinne eines Informationsrecycling zu leisten, das Sprache und Bilder stets aufs neue in den Diskurs einspeist und damit den für das kulturelle Gedächtnis unentbehrlichen Kitsch produziert. Um dieser Funktionsweise des Daten- und Poetik-Recyclings weiter nachzugehen, sollen zunächst einige ausgewählte Textmaschinen aus dem Internet kurz vorgestellt und kommentiert werden.

 

Der Anagramm-Generator

http://www.jti.net/brad/anagram.htm

 

In seiner elementaren Funktionsweise übernimmt der Anagramm-Generator kombinatorische Feinarbeit. Bis zu 5000 Anagramme erzeugt die Maschine mit einer vorzugebenden Zeichenkette. Systemintern werden immer wieder dieselben Grapheme vertauscht und spielerisch angeordnet. Die Assoziations- bzw. Lesemöglichkeiten liegen bei dieser Recyclinganlage zwischen Sinnhaftem und Unsinnigem, aber stets im Bereich des Zufälligen.

 

Der Shakespearianische Beleidigungsgenerator

http://www.pangloss.com/seidel/Shaker/index.html

 

Serialität liegt bei diesem Automaten nicht nur in der Produktionsweise der Beleidigungsformeln vor, sondern ist vor allem bedingt durch die Ökonomie der hier verwendeten Sprache: Es handelt sich (wie bei allen Textgeneratoren) um einen endlichen Zeichenvorrat mit kürzeren oder längeren strings, die per Knopfdruck in einer endlichen Zahl von Variationen angeordnet werden. Das Idiom des Shakespeare-Englischen und seine wenig ausgeprägte political correctness repräsentierend, wird jedem simulierten Zitat ein "Thou" davor gesetzt. Die Syntax dieser Texte bleibt demnach starr und wird jeweils unterschiedlich semantisiert. (Kitschig vor allem in der graphischen Darbietung das Medaillon mit einem Shakespeare-Porträt.)

 


Der Sloganizer

http://www.in-chemnitz.de/guenter.gehl/gen.html

 

Ähnlich simpel funktioniert der "Sloganizer". Syntaktisch festgelegte Werbeslogans werben für den Generator. Theoretisch könnte man sich daran beteiligen, den endlichen Zeichenvorrat zu erweitern, der dann für den nächsten Slogan benutzt werden soll. Dies ist aber ein bloßes Versprechen, wie bei den meisten dieser sogenannten interaktiven oder halbautomatischen Generatoren festzustellen ist.

 

Der Gedichtgenerator

http://www.in-chemnitz.de/guenter.gehl/gen.html

 

Neben Syntax und Zeichenvorrat werden in diesem Gedichtgenerator feste und freie Formen der Metrik, Rhetorik und Reimschemata reproduziert. Lyrik wird hier als algorithmisierte Gattungscharakteristik dargestellt.

 



Der Romangenerator

http://www.in-chemnitz.de/guenter.gehl/gen.html

 

Über Strophen- und Verssyntax weist der Romangenerator hinaus (der sich noch in der Testphase befindet). Auch hier liegt der Maschine ein endlicher Zeichenvorrat vor, allerdings variiert die Syntax und Pragmatik. Diese sind als Entitäten in der Programmiersprache beschrieben. Interessant ist vor allem der Wechsel direkter und indirekter Rede, der eine/n auktoriale/n ErzählerIn, aber kein Ich im Text zulässt. Wie alle Textmaschinen nährt sich auch diese von Ironie, Komik und Groteske, die von der autistisch/automatisierten Poetik des Schreibes herrühren.

 

Permutationen:

http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/index.cgi

 

In ihrer historischen bzw. auch historistischen Intention deutlicher noch als der "Shakespearean Insulter" ist der Textgenerator "Permutationen" von Florain Cramer angelegt. Hier werden verschiedene Modelle von Schriftgeneratoren aufgerufen, für den Netz-Gebrauch graphisch revitalisiert und somit als Datenmüll überwiegend der Frühen Neuzeit ins Internet wieder eingespeist. Allerdings hat dieser Abfall System, es werden keine Daten amalgamiert.

 


Der Postmodernism-Generator:

http://www.csse.monash.edu.au/community/postmodern.html

 

Viel verspricht eine Textmaschine, die alle Schreibblockaden der modernen Wissenschaft auflöst: der komplexe Postmodernism-Generator. Es handelt sich um die Kompilationen eines Zitate-Vorats mit Phrasen, Stichwörtern und Namen aus dem Theoriediskurs etwa der letzten 10 Jahre. Syntaktisch wird hier Wissenschaftssprache recycelt. Dabei entsteht "unsinninger" Datenmüll, der in einer großen, zufällig entstandenen Des-Information abgerufen und angeordnet wird. Davor warnt die Maschine ausdrücklich: "The essay you habe probably just seen ist completely meaningless and was randomly generated [...]". Die Kategorien des Unsinnigen bzw. Bedeutungslosen und des Zufälligen sind zweifellos zu hinterfragen, schreibt doch das Programm gerade nicht den Zufall sondern den Ernstfall (vor) und erzeugt es doch die Bedeutung, Zeichen und Sprache in ihrer arbiträren Struktur ihrerseits als bedeutungslos auszustellen.

 

Bei diesen ausgewählten Textmaschinen lässt sich aufgrund hauptsächlich folgender drei Beobachtungen von linearer Serialität als gemeinsamem Merkmal sprechen: 1.) die serielle Geste des Knopfdrucks, die zugleich immer auf ihr eigenes Tun deutet, 2.) die Vernetzung und Reihung eines endlichen Zeichenvorrats, der in dieser Organisationsform zur Anhäufung von Des-Information gerät, denn alle Strings sind durch ihre wiederholtes Aufrufen so untereinander vernetzt, dass diese Netze als serielle Knoten und Muster entziffert werden könnten, und 3.) die den Regeln der Produktionsökonomie unterworfenen Autorschaft bzw. Programmierung und Generierung.

 

Wie lässt sich nun ein Modell der Herstellung von serieller Literatur beschreiben?

In der bereits erwähnten Kitsch-Literatur des 19. Jahrhunders wurde zwar die Produktion und Publikation – und damit auch die Schreibmotivation – seriell organisiert, das Schreiben des Textes (als kulturell basale Geste) jedoch blieb den Verfahren eines Autors oder einer Autorin in ihren je spezifischen Diskursen überlassen. Serialität lässt sich hier nur in einem größeren Zusammenhang feststellen, wenn man den jeweils vom Genre abhängigen, stereotypen Plot und die Darstellungsmittel als serielle Phänomene bezeichnen möchte. Zahlreiche Trivialromane des 19. Jahrhundert weisen die Merkmale von "endlosen Geschichten" auf (vergleichbar den heutigen TV-Vorabend-Serien).[26] Sie dienten als zyklisch serielle Lektüre spezifischer LeserInnen-Gruppen (etwa Karl May-Romane für das engendering pubertierender, früher meist männlicher Leser oder Marlitt- oder Courths-Maler-Romane für eine weibliche Leserschaft). Dass Karl May oder Eugenie Marlitt Autor und Autorin ihrer Texte sind und damit über eigene Signatur verfügen konnten, soll zunächst nicht bezweifelt werden (abgesehen davon, dass sich Texte immer auch "selbst schreiben" und die Urheberschaft als humane Größe auslöschen). Bei computergenerierten Texten erscheint dieser Zusammenhang komplexer zu sein. Hier würde zunächst niemand eine singuläre Kategorie der Autorschaft vermuten. Zwei Argumentsrichtungen lassen sich vergröbernd aus der Webliteratur-Forschung herausarbeiten: Zum einen gäbe es gar keinen Autor mehr, weil der Computer die Herstellung des Textes übernimmt. Zum anderen dominieren die vermeintlich demokratischen Potentiale des Internet (es bleibt die ständige Frage an die westliche Weis(s)heit zu stellen, ob wirklich alle Menschen Zugang zum Netz haben?), und diese machen jeden und jede, der sich an den Textmaschinen versucht, zum Autor und zur Autorin.

Im Raum zwischen diesen beiden Thesen fordert jedoch auch der- oder diejenige, der/die programmiert und die Wörterlisten kompiliert, mit den Gesten des Schreibens und des "Knopfdrucks" partielle Autorschaft ein. Also wie kann man sich ein Modell dieser Autorschaft denken? oder anders gefragt: wenn hier Kitsch anzutreffen ist, wer erzeugt diesen? Ein Programm wird geschrieben, d.h. es wird Text erzeugt, der aber noch kein literarischer sein kann, sondern ein fachsprachlicher (Programmiersprache). Dieses Programm wird in das Internet eingebunden – was bedeutet, dass ein Text in einen Hypertext integriert wird, so dass er selbst zum Hypertext wird – und vom Provider als Web-Seite zum Abruf bereitgestellt. User rufen diese Seite auf (drücken den Knopf in einer seriellen Geste), initiieren und motivieren die Textproduktion, der Computer generiert und kompiliert – und erst jetzt wird der User zum Leser: Es handelt sich demnach um eine funktionale Verkettung von Hard-Ware, Soft-Ware, Net-Ware und Wet-Ware in einer seriellen Organisationsform.

Generatoren funktionieren typographisch, syntaktisch und pragmatisch, sie können nur zum kleinen Teil die von ihnen präsentierte Sprache und Schrift simulieren. Schrift verweist hier maschinenintern nicht auf Phoneme und Seme, sondern auf einen eingeschränkten und eindeutigen typographischen Zeichenvorrat. Gerade dessen Uneindeutigkeit wäre Ursache für sein eigenes Versagen. Aus diesem Grund wird Autorschaft, wenn sie tatsächlich so etwas wie Intentionaliät und Identität mitmeinen sollte, alleine auf die Leserschaft verschoben. Der Programmierer ist somit möglicherweise Urheber eines Textes, aber kein Autor und schon gar kein "Dichteringnieur", wie ihn bereits Baudelaire und später noch einmal Gottfried Benn vor allem in Hinblick auf die stilistischen Konsequenzen bei technischer Fortentwicklung skizzierten.[27] Eine solche partielle Autorschaft ließe sich statt als Schriftstellerei als "Schrift-Um-Stellerei" bezeichnen.[28]

Weil den Programmen die Dimension von Konnotation und Denotation eines Zeichens nicht zu vermitteln ist, verfasst der Programmierer demzufolge alles andere als einen literarischen Text: Nur in der Auswahl der Listen und Zitate intendiert er bestimmte Bedeutungsdimensionen. Nur hier kann er am Diskurs teilhaben. Ansonsten verwendet er eindeutig codierte, denotative Befehle und schreibt am intertextuellen Bedeutungsnetz insofern mit, als er es lexikalisch und pragmatisch selektiert. Der User schließlich hat lediglich im Rahmen der Handlungsanweisungen Möglichkeiten zum literarisch kreativen Einschreiten, er drückt Knöpfe, entweder "OK" oder "Abbbrechen", 0 und 1, ja oder nein. Er verharrt demnach im binären Code und folgt einer seriellen Produktionsökonomie. Allein die LeserInnen können den Text als literarischen wahrnehmen, weil erst sie Schrift und Sprache vervieldeutigen und die Zeichen als Zeichen mit ihren Referenzdimensionen (Signifikate/Signifikanten) entziffern. Allerdings, und das scheint ein wichtiger Aspekt zu sein, werden in diesen Entzifferungsmechanismen keine Bedeutungen und Wertungen dominant gesetzt. Jeder dieser generierten Texte ist dem Rezipienten und der Rezipientin gleich viel, keiner dieser Texte ist besser oder schlechter, komplexer und banaler, kanonischer oder kitschiger als der unmittelbar vergleichbare Text, der mit dem vorhergehenden oder dem nachfolgenden Mausklick produziert wurde und wird.

Wenn also der Kitsch in die computergenerierten Texte einbricht, dann als Funktionsweise des Datenrecycling: Ein endlicher Zeichenvorrat wird seriell reproduziert, d.h. Zeichen werden stets in einer ebenfalls endlichen Zahl von Varianten kombiniert (n+1). Man könnte also vom Recycling längst kontextualisierter Des-Informationen sprechen. Kitsch verweist zudem selbst auf seine Produktionsweise, und diese Phänomen ist nur dann gegeben, wenn nicht einige ausgewählte Spezialisten (und es waren in der Tat anfangs nur Spezialisten!) einen Rechner bedienen, die Taste der Wiederkehr drücken und dabei Autopoeme in serieller Folge generieren. Die Produktionsweise ist dann immer noch keine massenhafte, höchstens die Drucklegung von computergenerierten Texten in den einschlägigen Anthologien kann als solche gelten.[29] Im Internet hingegen ist die Rahmung des Programms selbst schon wieder derart seriell reproduziert (gleichsam als geklonte Textkörper), als jedem User die gleiche Web-Seite auf seinem Bildschirm zu sehen gegeben werden kann.

 

Um ein vorläufiges Fazit zu ziehen: Textgeneratoren im Internet archivieren typographische Zeichenketten und führen sie immer wieder aufs neue dem Informationsrecycling zu. Sie reproduzieren mit Hilfe mehrerer Autorschaftsinstanzen den Datenmüll aus Büchern und Netzen. Wollte man dem epizyklischen Modell von Flusser folgen, müsste man seine Thesen dahingegend erweitern, als sich der Prozess des Datenrecycling in den Archiven der elektronischen Datenspeicherung selbst vollzieht, und auf diese Weise dienen die Textmaschinen einzig der Kitscherzeugung. Im traditionellen Verständnis von Kitsch ergäbe sich dadurch ein Paradoxon, weil der Leser und die Leserin den Kitsch nicht bemerken: Sie selbst setzen nämlich ästhetische, sozial- und literarhistorische sowie subjektive Kriterien für Kitsch ausser Kraft. Lediglich die serielle Geste des Knopfdrucks, die hier symbolisch für die Rahmung der Texte auf einer meist graphisch überbordenden Web-Seite, lässt einen skeptisch werden, denn sie erzeugt wieder einmal die vielzitierte postmoderne Beliebigkeit und zugleich das Glück, im Signifikanten-Abfall der Literatur zu wühlen.

 

 

Geschlechterkitsch

Max Bense gilt als der "Vater" computergenerierter Literatur (mit seiner Stuttgarter Schule als Familie), und es nimmt kein Wunder, dass es eine Frau war, nämlich Rose Ausländer, die im Sinne einer historischen Geschlechterdifferenz Kritik an dieser Lyrik übt. Bezeichnend ist die Art und Weise dieser Kritik, die selbst wiederum Des-Informationen längst kontextualisierter Bilder in den poetischen Diskurs einmischt:

 

Computerlyrik

 

Lyrik

schüttle die Wörter

im Kaleidoskop

 

Aus der Hirnmaschine

quillt das Poem

buchstabentreu

 

Zufallsmetaphern

die grauslige

Costne-

Hölderlin-

Litanei

 

Drei Wörter

ein halbes Dutzend Gedichte

im Uhrwerk

jedes

zeigt die Zeit an

 

Silbensoldaten

schlachten

die Liebe

zum Wort und

Wortgefecht

 

Lyrik

dahin

ist es gekommen[30]

 

Hier spricht nun ein Text von Liebe (s.o.) und er evoziert Metaphern aus der Anti-Kriegs-Literatur, die als kitschige Kampfansage an die lieb-losen Maschinen daherkommen ("Silbensoldaten/ schlachten/ die Liebe/ zum Wort und/ Wortgefecht"). Der Syntax computergenerierter Lyrik nicht unähnlich, ist diese Lyrik von Ausländer als Teil des lyrischen Diskurses wie von selbst ebenfalls "dahin" gekommen. Nach diesem "Dahin" und seinem Ort zu fragen, bedeutet zugleich, das Verhältnis von Autor und Autorin – sich einander kritisch auseinandersetzend – nach ihrem gemeinsamen Ort zu fragen. Es sind unter Aspekten der Gender Studies die historisch-personalen Konstellationen und Differenzen, die hier für die Literaturgeschichtsschreibung von Interesse wären (Schreiben/Dichten im Nachkriegsdeutschland der 60er Jahre z.B. als Mann, Frau, Exiljüdin, Übersetzerin, Literaturtheoretiker, Programmierer etc.). Dieser Diskurs ist offline angesiedelt und legt vermutlich Annahmen von Geschlecht und Identität mittels der Namen Max Bense und Rose Ausländer nahe. Welche Kategorien von Geschlecht aber können überhaupt noch zutreffen, führt man den Diskurs online weiter?

Dass Namen im Netz nichts mit der "Identität" von Träger und Trägerin zu tun haben müssen, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Wie verhält es sich zudem mit Texten, die, bis auf wenige Ausnahmen und abgesehen einmal von der Rettung der programmierenden Frau durch Ada Lovelace,[31] ausschließlich von gemutmaßten und mutmaßlichen Männern programmiert sind, von allen anderen Geschlechtern wie Frauen, Transvesten, Transsexuellen, Intersexuellen etc. aber per Mausklick und Knopfdruck generiert und dann gelesen werden können? Der Kitsch und seine Literatur war vor allem im 19. Jahrhundert eine Frauensache, und es steht zur Debatte, ob sich dieses Verhältnis nun für die Textgeneratoren vom Geschlecht ablösen läßt. Diese Frage kann im Grunde nur dann gestellt werden, wenn wir den Namen der Programmierer als "authentisch" und zum Geschlecht kongruent annehmen, d.h. wenn wir hinter den Namen keine anderen Geschlechter annehmen, als sie zunächst implizieren.[32] Dazu ist anzumerken, dass in der Regel auf jeder Web-Seite eines Generators ein Link auf die persönliche Homepage des Autors gesetzt ist oder unmittelbar auf der Homepage den Lesern und Leserinnen die Annahme eines Autoren-Geschlechtes nahegelegt wird. (z.B. über weitere Namen wie "Günters genialer GedichtGenerator", Selbstbeschreibungen und Kontextualisierungen). Aber auch ist dies für eine Diskussion von Geschlechterdifferenz ein wenig attestierter "Beweis", weil die bloße Schrift wiederum die bloße Schrift kommentiert. Sind einerseits diese Differenzkriterien anzuzweifeln, so bieten sie andererseits die einzige Möglichkeit, überhaupt die zur Identifikation notwendige Differenz zu erzeugen: So wie in der frühen Phase der Autopoeme das Lexikon eines bestimmten Autors (etwa von Franz Kafka) oder Zurufe aus einem möglicherweise rein 'männlichen' Publikum für die Einspeisung in den Computer verwendet wurden, bewegt sich z.B. auch Florian Cramer mit seinem Textgenerator "Permutationen" in einer durch die Namen verbürgten männlichen Literaturgeschichte, indem er sich auf eine ganze Reihe von Autoren wie Giordano Bruno, Jean Meschinot, Thomas Lansius, Georg Philipp Harsdörffer, Quirinius Kuhlmann und Raymond Queneau beruft und deren historische Textmaschinen wiederbelebt. Textgeschichte ist hier erneut eine Männergeschichte, und dies in mehreren Autorschaftsinstanzen.

Von Geschlechterkitsch in computergenerierten Texten zu sprechen, könnte bedeuten, auch in der Webliteratur-Forschung nicht von "Frauen" und "Männern" lassen zu können und immer wieder Rückbezüge auf Leser und Leserin, Programmierer und Programmiererin, User und Userin herstellen zu müssen. Biologische Körper brechen auf diese Weise in die Texte ein, ohne sich dieser versichern zu können.[33] Im Bereich computergenerierter Texte, die obendrein im Internet hängen, sind hingegen so viele autorisierende, identitätsstiftende Schnittstellen bzw. auch Brücke zu finden, dass die traditionelle Geschlechterforschung (abgesehen einmal von der demoskopischen Soziologie) wenn nicht aufzugeben, so doch in stärkerem Maße als bisher zu hinterfragen ist.[34]

Möglicherweise verhält es sich mit dem Geschlechterkitsch in computergenerierten Texten als ein Phänomen von Informations-/DesInformations-Recycling ähnlich wie mit dem Phänomen "Camp". Susan Sontag hatte dieses nicht ausschließlich, aber als Affinität, als "eigentümliche Beziehung", zur Schwulenkultur skizziert.[35] "Campy" sind weniger spezifische Dinge und Orte als vielmehr ein nach Geschmack organisiertes Muster serieller Erlebnisfolgen. Die Geschmacksfrage (als Entdeckung, "dass es auch einen guten Geschmack des schlechten Geschmacks gibt")[36] fungiert dabei als Alternative zum Kitsch. Camp und Kitsch sind nicht voneinander zu trennen, denn die Kategorie des Kitschigen wird im Zusammenhang mit Camp zwar jedesmal vorausgesetzt und an das Phänomen herangetragen. Jedoch gibt keine Gewissheit darüber, dass ein Erlebnis, ein Ort, ein Körper, eine Person uns ihres Camp-Daseins versichert. Computergenerierte Texte vermitteln ebenfalls seriell organisierte Erlebnisfolgen: Es handelt sich um Literatur, die – obgleich zu keiner Zeit und in keiner Programmroutine aus dem autopoetischen System des Datenrecycling (als Kitsch) herausfallend – in der auktorialen Geschlechterfrage auf Knopfdruck verunsichert.

 

 



[1] Zum Beispiel von Eugen Gomringer (1925): "alles ruht/ einzelnes bewegt sich// bewegt sich einzelnes/alles ruht// ruht alles/einzelnes bewegt sich// bewegt sich einzelnes/ruht alles// alles ruht/einzelnes bewegt sich" Eugen Gomringer: Konstellationen ideogramme stundenbuch. Stuttgart 1977, 35

[2] Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Bensheim 1993 (2. Aufl.), 79

[3] return: Rückkehr, Wiederkehr; enter: (ein)treten, betreten, einsteigen, einschreiben, eintragen. Gleich danach folgt als spezifischer Operator nun die Letter @ in jeder email-Adresse, die aber mit mindestens 2 (AltGr+q) oder 3 Tasten (Ctrl+Alt+q) erzeugt wird.

[4] Im World Wide Web ist der "Knopfdruck" stets präsent, (fast) alles funktioniert über diese Metonymie des Bedienens und Befehlens (eine Suche mit web.de hat am 10.12.1999 genau 16.302 Einträge zum Knopfdruck ergeben).

[5] Vgl. hierzu Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte - Körperbilder - Grenzdiskurse. Reinbek b. Hamburg 1999, 265ff.

[6] Michelangelo: The creation of the man, Sixt. Kapelle (Decken-Ausschnitt), 1511-12

[7] Ecole de Fontainebleau, Ende 16. Jh.: Gabrielle d'Estrées et une de ses soeurs; Ursula Brändli: "coming out", 1995

[9] CD-Rom-Beilage Spiegel Spezial 10/1999: Vom Buch zum Internet. Die Zukunft des Lesens

[10] Susanne Berkenheger: Der mausgesteuerte Autor oder die Entstehungsgeschichte von "Hilfe! - Ein Hypertext aus vier Kehlen". http://www.update.ch/beluga/digital/99/berkenheger.htm

[11] Insbesondere von Karlheinz Deschner: Kitsch, Konvention und Kunst, München 1957.

[12] Walter Killy: Deutscher Kitsch, Göttingen 1962.

[13] Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt/M. 1973.

[14] Vgl. auch: Erbauliches, belehrendes, wie auch vergnügliches Kitsch-Lexicon von A bis Z. Zu Nutz und Frommen eines geschmackvollen Lesers präsentiert und kommentiert von Hrn. Gert Richter, Doctor philosophiae, Gütersloh, Berlin u.a. 1972; und: Schulte-Sasse, Jochen (Hg.): Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Theorie, Geschichte und Einzelinterpretation. Tübingen 1979 (Deutsche Texte, Bd. 52).

[15] Die folgende Abbildung zeigt das Titelblatt von August Friedrich Fetz: Ein Blick in die Zukunft 2407 – Dr. Wunderlichs seltsame Erlebnisse in Berlin vom 1. Bis 7. Oktober 2407 (1907).

[16] Die Gartenlaube als Konzept verweist ja selbst schon wieder auf eine standardisierte und serielle Form von Architektur und Vergnügen.

[17] Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt/M. 1999. (vorher: Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet. http://www.rainaldgoetz.de) Der missing link zum Kitsch vgl. Rainald Goetz: Jeff Koons. Frankfurt/M. 1998.

[18] Eugenie Marlitt: Im Hause des Kommerzienrates. Illustrationen von Heinrich Schlitt. München 1977 (Reprint mit einem Vor- und Nachwort von Jochen Schulte-Sasse und Renate Werner).

[19] Vgl. auch die Einschreibung materieller Werte in die Titel ihrer Romanerfolge "Goldelse" (1865/Buchfassung 1967), "Reichsgräfin Gisela" (1869) oder "Im Schillingshof" (1879).

[20] Vgl. hierzu die strukturale Modellanalyse dieses Romans in: Jochen Schulte-Sasse, Renate Werner: Einführung in die Literaturwissenschaft, München 1977 (8. Aufl., 1994), 162ff. und 170ff.

[21] vgl. Epizykloide (gr.): Kurve, die entsteht, wenn ein Punkt eines Kreises auf den Umfang eines anderen Kreises abrollt.

[22] Vilém Flusser: Gespräch, Gerede, Kitsch. Zum Problem des unvollkommenen Informationskonsums. (1984) In: V.F.: Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design. Mannheim 1995 (2. Aufl. 1996), 9-23, hier 14.

[23] Vgl. Flusser, a.a.O., 21.

[24] Vgl. den Umschlagtext von Milan Kundera auf Tomas Kulka: Kitsch and Art. Pennsylvania 1996:"To talk about kitsch became impolite at the very moment when the world itself was turning kitsch. [...] We are surrounded by kitsch. Kitsch is everywhere: television, newspapers, our private lives, politics. Even war is presented as kitsch." Zur Allgegenwärtigkeit von Kitsch vgl. auch das schöne Bilderbuch von Peter Ward: Kitsch as Kitsch can. Ein Konsumführer für den schlechten Geschmack. Übersetzt von Stephen Tree. Berlin 1992.

[25] Vgl. hierzu auch Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Regensburg 1997, 143ff.

[26] Vgl. hierzu z.B. die Serialität in den Vorabend-Soaps: Günter Giesenfeld (Hrsg.): Endlose Geschichten. Serialität in den Medien. Hildesheim, Zürich, New York 1994, = Germanistische Texte und Studien, Bd. 43.

[27] Gottfried Benn 1951 in seinen Marburger Vorträgen "Probleme der Lyrik":"Der Dichter, ein Ingenieur, das Gedicht ein Laborgedicht." (zitiert aus: Astrid Guderian: Technik und Lyrik - Die Geschichte einer Beziehung, in: Technik und Kunst. Hrsg. von Diemar Guderian, Düsseldorf 1994, = Technik und Kultur, Bd. 7, 450-493, hier 485)

[28] Rolf Todesco: Hyperkommunikation. Schrift-Um-Steller statt Schriftsteller. http://www.update.ch/beluga/digital/texte.html

[29] Vgl. die Beiträge in: Erhard Schütz (Hg.): HighTech – LowLit? Literatur und Technik. Autoren und Computer, Essen 1991.

[30] Rose Ausländer: Computerlyrik, in: R.A.: Die Musik ist zerbrochen, Frankfurt/M. 1993, 193.

[31] Eine solche Ausnahme ist der Poetry Generator von Rosemary West, vgl. dazu Ulrike Bergermann: Schreiben Automaten Frauen. Automatisches Schreiben, computergenerierte Literatur und die Wahrheit der Frau im Turing-Test, in: Karl-Josef Pazzini, Erik Porath und Susanne Gottlob (Hg.): Medien im Prozeß der Bildung [Ms; Druck in Vorbereitung]. Zur prosaischen Rettung von Ada Lovelace vgl. Sadie Plant: nullen und einsen. Digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien. Aus dem Englischen von Gustav Roßler, Berlin 1998.

[32] Zur "Namhaftigkeit" von Autorin/Autor vgl. an anderer Stelle meinen Überblick "Rückkehr einer Scheinleiche? Ein erneuter Versuch über die Autorin, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, 255-272.

[33] Zum Beispiel in Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Regensburg 1997, 316: "Männer, dies ist meine These, denken isolationistisch, Frauen der Tendenz nach kontextuell; und die Medienlandschaft wird von einem Bruch durchzogen, der dem Frontverlauf des Geschlechterwiderspruchs folgt.": Auch wenn Winkler seine eigene These im folgenden hinsichtlich traditioneller Rollenzuschreibungen relativiert, setzt er doch ein Wissen über Frauen und Männer voraus (bzw. das Wissen, dass es solche eindeutigen Entwürfe geschlechtlicher Identität gibt), das vor dem Hintergrund medialer Möglichkeiten eine Des-Information darstellt (und immer schon war).

[34] Anders als im Turing-Test oder im psychologischen Programm "Eliza" fragen computergenerierte Texte nicht nach dem Geschlecht oder der Differenz zwischen Mensch/Maschine und bieten keine Gelegenheit, mögliche Antworten darauf zu verbalisieren (vgl. dazu Ulrike Bergermann: Schreiben Automaten Frauen. Automatisches Schreiben, computergenerierte Literatur und die Wahrheit der Frau im Turing-Test, in: Karl-Josef Pazzini, Erik Porath und Susanne Gottlob (Hg.): Medien im Prozeß der Bildung [Ms; Druck in Vorbereitung]).

[35] Susan Sontag: Anmerkungen zu 'Camp' [1964], in: S.S.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Deutsch von Mark W. Rien, Fischer 1995, 322-341, hier 338f.

[36] Susan Sontag: Anmerkungen zu 'Camp' [1964], in: S.S.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Deutsch von Mark W. Rien, Fischer 1995, 322-341, hier 340.