The
Art
of
Emergency

Doro Carl, Christine Fausel, Chris Lambersten, Christiane Lüdtke, Helene von Oldenburg, Claudia Reiche


Ausstellung

hinüber. Übungen zum Tod

‚Hinüber‘, das meint ganz allgemein ‚von dieser Seite nach dort drüben‘. Gebräuchlich ist eine respektlose Verwendung des Worts für Mensch wie Material: ‚hinüber sein‘, wenn nämlich jemand oder etwas als nicht mehr brauchbar, als nicht mehr zu reparieren oder zu heilen gilt, tot ist. Kaputt. Mit anderem, feierlichem Tonfall meint ‚hinüber’ ebenso ein ‚Hinübergegangen sein‘ – über den Jordan oder andere Grenzflüsse – in eine imaginierte Region des Todes oder unbekannter Verheißung.

So oder so: wer wüsste schon für sich den Ort des Lebens anzugeben, wenn nicht vom Tod aus? Wenn Sigmund Freud es auf die kurze Formel bringt: „im Unbewußten [ist] jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt“, so wären es je verschiedene Vermeidungen eines Unerträglichen, die kulturformend wirkten.

Das Leben als Übung zum Tod aufzufassen, ist eine Idee, die die Arbeiten dieser Gruppenausstellung verbindet. Den eigenen Tod oder den Tod anderer als konkrete Frage und künstlerisch politischen Versuch einer neuen Ortsbestimmung zu nehmen, dem widmen sich in je verschiedenen Zugängen und Umwegen die Arbeiten zum ‚hinüber‘. 

Die Positionen

Doro Carl
List of Deaths [2023]


Foto- und Soundinstallation

Im Format überdimensionierter Fotostreifen wie aus einem Passbildautomaten hängen Bilder von Meereswellen von der Decke. Über einen Kopfhörer ist dazu eine Lesung aus der ‚UNITED – List of Refugee Deaths‘ von Januar 2022 bis Februar 2023 zu hören.

Auf dieser Liste sind die Daten von mehr 52.760 Menschen dokumentiert, die zwischen 1993 bis Mitte 2023 auf dem Fluchtweg nach Europa verstorbenen sind.

Die aufgelisteten Todesfälle ermöglichen einen Zugang zu den Todesursachen einzelner Menschen und damit einen persönlicheren Bezug zu statistischen Angaben der Verstorbenen.

In Cooperation mit UNITED for Intercultural Action - European network against nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees. Campaign Fatal Policies of Fortress Europe https://unitedagainstrefugeedeaths.eu/

Die Foto- und Soundinstallation List of Deaths ist Teil von Doro Carls Videoarbeit und Installation: Transit Exil Immigration.




Doro Carl


Doro Carl lebt und arbeitet als Filmemacherin und Künstlerin in Hamburg.

Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Ihre Arbeiten liegen im künstlerischen Dokumentarfilm, Video- und Soundinstallation mit Präsentationen im In- und Ausland.

Mitglied im Abbildungszentrum/Frise in Hamburg, Lehrtätigkeiten u.a. als FilmvermittlerIn der KurzFilmSchule Hamburg.

www.do-ca.de

Bild: Doro Carl

Christine Fausel
Ohne Titel (Das Engelbuch für Leni) [2022]

Kunstbuch, Video

Das gezeichnete, gemalte und mit bunten Papieren und Gedichten collagierte Heft, das von einem goldenen Gummiband geschlossen gehalten wird, hat keinen Titel, ist mit einer Widmung „für Leni“ versehen, die Tochter der vor einigen Jahren verstorbenen Lebens- und Kunstfreundin Ameli Herzogin von Oldenburg. Die „Engel“ des Heftes tauchen in den Gedichten und Textausschnitten von Else Lasker Schüler, Rainer Maria Rilke, Jean Paul und Klabund auf und in Gestalt einer Frage, handschriftlich. Ganz wie der „TOD“ als Titel eines Blattes, geschrieben in großen Buchstaben von einer 97jährigen. Mit einem Video von Claudia Reiche.

Bilder: Christine Fausel (Video Claudia Reiche)

Christine Fausel

Christine Fausel, geboren 1925, begann 1945 ein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf. Die Begegnung mit der Studienkollegin Ameli Herzogin von Oldenburg entwickelte sich zu einer lebenslangen Künstlerinnenfreundschaft. Sie ist als als Malerin und Grafikerin tätig, leitete zeitweise eine Firma für Herrenkonfektion und arbeitete als Kunstpädagogin. Ausgehend von Landschaftsmalerei reduzierte sie immer weiter den Realismus hin zum Expressionismus, der gestischen und lyrischen Abstraktion. Derzeit werden menschliche Figuren schemenhaft sichtbar.

https://christinefausel.de/


Chris Lambertsen
ADIEU [2020 / 2023]

Kunstbuch und Fotografien

Das Kunstbuch ADIEU aus dem Jahr 2020 ist einem verstorbenen Freund und seinem fotografischen Gedenken gewidmet (Auflage 35 + AP) Abschied ist das Thema dieses Buches – gestaltet mit Fotos. Abschied = Tod.
„Adieu“ ist ein Gruß an eine Zeit, die nicht vergangen ist, an einen Verstorbenen, der nicht tot ist und eine Liebe, die nicht verschwunden ist. Es ist ein Buch mit Bildern, wie sie in der Fotografie und der Sehnsucht entstehen. Orte eines möglichen Treffens an unmöglichem Ort. Sie sind eingeladen. Großformatige Fotos setzen im Ausstellungsraum das Verfahren des Buches in neuen Kompositionen fort.

Bilder: Chris Lambertsen

Chris Lambertsen

1954 auf der Insel Föhr geboren.
1973 – 1976 Fotografenausbildung Atelier Rheinländer Hamburg.
1976 – 1982 Studium Hochschule für bildende Künste | Visuelle Kommunikation.
Neben kommerziellen Arbeiten für Agenturen und Verlagen – diverse Projekte für| mit | im LGBTIQ Kontext.


Christiane Lüdtke
meine Mutter – 11 Berührungen [2003]

11 Zeichnungen

Im Jahr 2003 lag meine Mutter für Wochen auf einer Intensivstation im Koma. Das Krankenhaus war 250 km von meinem damaligen Wohnort entfernt. In großer Unruhe bin ich oft mit dem Auto morgens um 5.00 losgefahren, um meine Mutter zu besuchen.
Gespräche mit ihr waren nicht möglich.

So habe ich sie bei jedem Besuch gezeichnet:
um den Anblick des veränderten Körpers auszuhalten, um mich zu beschäftigen, um meiner Mutter nah zu sein. Die Arbeit mit dem Zeichenstift war wie ein Streicheln und ein Anerkenntnis: ‚so ist es jetzt‘.

Die Ärzte haben in meinem Beisein die lebenserhaltenden Maschinen abgeschaltet. Ich habe meine Mutter bis an die Schwelle begleitet, sie starb am 16. Juli 2003.

Zeichnungen mit Tintenstift auf Wischtuch/Vlies, 6. Juni – 16.Juli 2003

Bild: Christiane Lüdtke

Christiane Lüdtke

Christiane Lüdtke ist Bildhauerin und Kuratorin von partizipatorischen Kunstprojekten.
Sie realisiert abstrakte Arbeiten in Holz oder Eisen von bis zu vier Metern Höhe genauso, wie kleine figurative Arbeiten aus Ton. Ausgangspunkt ihrer Arbeiten ist nicht nur das Gesehene, sondern komplexe inhaltliche Projektideen. Die Zeichnung ist ein eigenständiger Baustein ihrer Kunst.
Sie gibt Seminare in der Kunstschule Gärtnerhaus im Woods Art Institute bei Hamburg.

www.christianeluedtke.de
www.gaertnerhaus.de
www.goingpublic-bergedorf.de


Helene von Oldenburg
Rest [2023]

Installation

Zum Tod gehört auch die Entscheidung, welche Spuren, Dokumente, Notizen, Informationen aufbewahrt, weitergegeben, unleserlich gemacht oder vernichtet werden.
Meine Mutter besaß einen Aktenvernichter und in den Jahren vor ihrem Tod hat sie mich mehrmals bedauert, dass ich doch ihre Papiere sortieren müsste.
Indem ich ihre Maschine in Aktion versetzt habe, habe ich buchstäblich ihren letzten Willen fortgeführt. Ein seltsam entrückter Entscheidungsprozess… Was würde sie gewollt haben? Und was möchte ich? Wie entscheiden, was erhalten werden soll und was nicht?
Die Maschine macht, solange sie die hineingesteckten Dokumente zerstückelt, Lärm, der meinen Schmerz gleichzeitig zu übertönen und herauszuschreien scheint.

Bilder: Helene von Oldenburg

Helene von Oldenburg

Helene von Oldenburg lebt und arbeitet in Rastede und Hamburg und ist als Künstlerin und Kuratorin tätig. Dr. agr., Studium Freie Kunst an der HfbK Hamburg. Ihre Arbeiten – Installationen, Performances, Vorträge – konzentrieren sich auf Grenzgebiete zwischen Kunst und Wissenschaft und unterscheiden sich voneinander durch unterschiedliche Konzepte, Verfahren, und in den verwendeten Medien.


Claudia Reiche
heim… [2023]

Foto- und Videoinstallation

Die Installation konfrontiert drei verschiedene visuelle Sujets: Militärische Datenvisualisierung, von Zielen und Treffern, etwa in einer Beobachterkamera eines Flugabwehrsystems. Infrarotfotos von der elterlichen Wohnung im Zustand der Räumung. Nicht sichtbare Blitze in Dunkelheiten schießend, tastend in kindlichem Un/Vergessenem. Die Rückseiten alter Familienfotos, wie sie mit anderen Überbleibseln in verschnürten Kartons sich fanden: Intensive Blicke längst verstorbener Verwandter, die Kriege erlebten und nicht überlebten, sind verdeckt. Der Ton arbeitet mit Verdecktem weiter. Dort finden sich auch die Sounds entfernter Geschützfeuer von Weltkriegen, wie sie heute als „12 hours of relaxing sound“ angeboten werden, ergänzt vom hellen Geräusch fallenden Regens.

Bilder: Claudia Reiche 

Claudia Reiche

Dr. phil, ist Medienwissenschaftlerin, Künstlerin und Kuratorin. Sie arbeitet über Kulturen des Digitalen und deren epistemologische, ästhetische und politische Effekte und ist in Projekten engagiert, so im thealit Frauen.Kultur.Labor. Bremen https://www.thealit.de. Sie lehrt seit vielen Jahren im medientheoretischen und künstlerischen Bereich, derzeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zahlreiche Arbeiten zu  Medialität in Feldern von Psychoanalyse, Film, Bildkulturen.