Bewegung und Geschlecht
in Kleists Marionettentheater
und in Bildern
von Virtueller Realität
Ulrike Bergermann
Abstract:
Wer über "neue Medien" nachdenkt, wird mit oder ohne Absicht von Vorstellungen ausgehen, die die "alten" Medien geprägt haben. Das Neue an der Virtuellen Realität ist neben der Interaktivität vor allem das Element der Bewegung: nachdem der Film die fotografischen Bilder zum Laufen brachte, ist es jetzt auch der Betrachter selbst, der in Bewegung gerät. Der Begriff Bewegung ist wiederum mit verschiedenen historischen und geschlechtsspezifischen Konzepten verbunden. Diese sind lesbar z.B. in einem Text des Schriftstellers Heinrich von Kleist über das Marionettentheater oder in Beschreibungen vom Gebrauch einer VR-Installation. Im Vergleich dieser Texte wird deutlich, in welchen Wechselbezügen Kunst/Medien und Subjektbegriffe oder Konzeptionen von Weiblichkeit stehen, wie sie sich mit den technischen Apparaturen verändern - und wo sie alte Muster restituieren. Vielleicht war Kleists Geschlechterbild fortschrittlicher als die der bisherigen VR-Entwürfe, und vielleicht ist im Blick auf VR-Anwendungen ein verschobener Bewegungsbegriff nötig.
1. Die Bewegung
Die Frage nach der Bewegung ist immer eine nach dem Wissen: dem Entziffernkönnen,
dem Vergessen - das z.B. dem "Eintauchen" in virtuelle Welten prophezeit
wird -, eine Frage nach Leben (von Aristoteles bis zur Film-/Mediengeschichtsschreibung),
nach dem Tod bzw. seiner Aufhebung, wenn etwa Heinrich von Kleist vom Paradies
schreibt, aus dem die Menschheit kommt und wohin sie strebt. Und wer sie
bis hierher noch nicht gesehen hat, erwartet nun den Auftritt der Frau,
die die Frage nach dem Selbst mit der Frage nach dem Geschlecht stört,
die Frau, die seit 2000 Jahren zuständig ist für die sündige
Lust nach Wissen und dem Essen vom Baum der Erkenntnis. Kleists Szenario
spielt aber, wie es scheint, unter Männern. Auch mechanische Puppen,
Marionetten scheinen ebenso wie digitale Körperbilder im Computer
ohne Geschlecht auszukommen, geschlechtsneutral konstruierbar und programmierbar zu sein (erst im letzten Schritt kämen äußere Körperformen und geschlechtsspezifische Kleidung zum Bild). Digitale, bewegte und in Echtzeit animierte Körperabbildungen versprechen ebenso größtmögliche Lebendigkeit des Erlebens wie Befreiung von Geschlechtergrenzen. Einen Lektürehintergrund hierfür bietet Kleists "Über das Marionettentheater".
Kleists Sujet, die Marionette, läßt thematische Felder erwarten
wie Natürlichkeit, Verhältnis Mensch-Abbild, Mensch-Maschine;
eine neue Variante der überlieferten Symbolik der Marionette als Sinnbild
für Theaterkonzeptionen[1] oder auch für die Abhängigkeit
des Menschen von höheren Mächten[2] , von Gott, von Trieben und
Leidenschaften (bei Platon stehen die Sehnen und Schnüre der Marionette
für die Triebkräfte der Leidenschaften), in der Neuzeit für
Abhängigkeit, Selbstbestimmung, Selbstreflexion (im 20. Jahrhundert
für Fragen nach Imitierbarkeit, Substituierbarkeit; Zerteilung, Zusammensetzen; Illusionsherstellung [3]).
Das ist alles mit angesprochen - ihren Ausgangspunkt nimmt die Betrachtung aber beim Tanz, nicht bei irgendeiner Art von Bewegung. Bewegung ist bei Kleist also nur als codierte denkbar, die Arbeit von Gelenken funktioniert nach einem Code: der Körper spricht, wenn man weiß. In der virtuellen Realität dagegen, so wird versprochen, sind Wissen, Sprechen, Reflexion des Codes zugunsten von 'purem lebendigen Erfahren' suspendiert. Fallen in dieser Bewegung Natur und Kunst zusammen? Ein Fall ohne Sünde, also ohne Frau?
Ich möchte die Frage nach Bedeutsamkeit von "Bewegung" stellen als eine, die im Code 'natürlich vs. künstlich' bzw. menschlich/technisch, belebt/unbelebt geschrieben ist. Unter welchen Vorzeichen verteilt also Kleist das Be-/Entziffern auf die Körper, das Wissen auf die Bewegung? Wie werden Gelenke bewegt, erzeugt ihr natürlicher oder ihr künstlicher Antrieb guten Tanz, das heißt Schönheit, das heißt Lesbarkeit nach Regeln (der Ästhetik) plus sinnlichem Genuß? Und: darf man das wissen, wenn das Nichtwissen vom Selbst doch erst die Schönheit und Anmut macht? - Schließlich: was haben virtuelle Körper damit zu tun?
2. Bilden: Vom Paradies
Kleist handelt von der Bildung des Menschen. Sowohl von der körperlichen Bildung (dem Bild, das einer abgibt) als auch vom Erkenntnisstand und Erfahrungsreichtum, und zudem (mit dem Verweis auf das dritte Buch Moses) auf die Herausbildung des Menschengeschlechts. Letztere vollzog sich mit der Vertreibung aus dem Paradies, 'nachdem sie sahen, daß sie nackt waren'; die Herausbildung des Selbst-Bewußtseins vollzieht sich durch das Entdecken der sexuellen Differenz. Evas Rolle übernimmt Kleist durch seinen Ich-Erzähler. Dieser unterhält sich mit dem Tänzer C.
"Ich" erzählt dem Tänzer namens C., wie das Bewußtsein "Unordnung" in die natürliche Grazie bringt. Wie geht diese sexuell konnotierte Verführung durch "nackte Worte" vor sich? Der Erzähler verführt einen Jungfräulichen zur Reflexion, er führt die Differenz ins Abbildungsverhältnis ein; allerdings nicht die zwischen dem Original (der Statue des Dornausziehers) und dem Abbild (dem Jüngling in einer Pose), nach der ein Zeichen sekundär ist und nie wieder (paradiesisch) das gleiche wie sein Signifikat bedeuten kann, sondern die Differenz zwischen verschiedenen Abbildern (Spiegelbildern), zwischen immer schon sekundären Zeichen. Was ist der Dornauszieher? Und was ist Anmut?
2a. Anmut
Der Dornauszieher, hier zunächst Name der Statue eines nackten
Jünglings, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht (eine römische
Bronze aus dem ersten Jahrhundert n.Chr., vermutlich nach einem griechischen
Original aus dem dritten Jh. v.u.Z.[4] ) war im Mittelalter das Symbol der Erbsünde. Die Erbsünde, so schiene die alte Symbolik bei Kleist verlängert lesbar, ist nicht wiederholbar. (Wäre es das biblische Pendant, der Status der Unschuld?) In der Neuzeit (nach Winckelmann) galt der Dornauszieher als Verkörperung der Grazie. Bei Kleist ist der Dorn durch einen Splitter ersetzt, was Gerhard Kurz als Motiv der Zersplitterung, des Zerbrechens gelesen hat.[5] Schon der Referenzmythos hat den Weg
von der Sünde über die Schönheit bis hin zur Auflösung
zurückgelegt. Und ist nicht Kleists Tänzer selbst Teil des Verletzten,
der verletzten Unschuld, nämlich "C", laut gelesen "Zeh", selbst vom
Dorn getroffen, von Zersplitterung betroffen?
"Anmut" bezeichnete damals 1.: was angenehme Empfindungen hervorruft, 2.: was Gesetze mit Sinnlichkeit verbindet, und 3.: was weiblich ist. Im
18. Jahrhundert war anmutig, was angenehme Empfindungen hervorruft, also
weniger eine bestimmte Eigenschaft der Dinge selbst als ein Stimulationskraft
der Sinne der Rezipienten. Auch Goethe nannte als Beispiel für Anmut
den Knaben, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht.[6] In Goethes Begriff von Anmut verband diese Kunst und Leben, Sinnlichkeit und Geist, ästhetische und sittliche Phänomene. Auch für Schiller ist Anmut die Brücke zwischen Geistigem und Sinnlichem, große Vermittlerin zw. moralisch vernünftiger Freiheit und Determination durch Sinnlichkeit.[7] Anmut bleibt bei Schiller nunmehr endgültig den Frauen vorbehalten,
während den Männern der Begriff Würde zugeordnet wird.
Marionetten fand Goethe schauderhaft[8], aber Schiller bevorzugt sie gegenüber der echten Frau auf der Bühne, den echten Schauspielerinnen. Diese weckten nämlich Begehren nach sich selbst, nicht auf das, was sie darstellten, seien also "Töchter der Wollust", während die Marionette Distanz zwischen Theater und Wirklichkeit schaffe. Und insofern das tut, was von der Geste gesagt werden kann: daß sie das Zeigen zeigt, in der Bewegung ihre eigene Medialität mit ausstellt.[9]
Der Tanz könnte das auch - die "Bewegung" aber unterliegt einer anderen Ideologie, der des unmittelbaren Körperausdrucks, in dem die Medialität
ebenso verschwinden soll wie in Schillers Theaterkonzeption die Übersetzungsarbeit der "leeren" Schauspielerinnen. Das ideale Schauspielen sei wie das Schlafwandeln auf dem Dach: beim Schauspielen an das Beobachtetwerden zu denken, sei
ebenso gefährlich wie beim Schlafwandeln auf dem Dach aufzuwachen.[10] Ebenso wird die ideale anmutige Bewegung möglichst gedankenlos, geradezu bewußtlos vor sich gehen müssen. Sonst sind die "Geister" nicht zu sehen: die Abbilder, die ebenso ideal sind wie ihre Vorbilder, die ursprünglichen
unbestochenen Abbilder. Hier sind (historisch neu) nicht die Fäden
der Marionette das eiserne Netz, das freie Bewegung beschränkt, sondern
bloße Worte tun dem unschuldigen Nichtwissen des lebendigen Körpers
Gewalt an. Die Statue selbst aber war unbewegt und kann in keiner verharrenden
Bewegung wieder eingeholt werden. Hätte der Jüngling Bewegungen
einer Marionette wiederholen können? Wäre menschliche Anmut von
anderen Vorbildern doch erlernbar? "Ich" konnte nicht auf diese Idee kommen, da die Marionette ja per se als das Andere der Anmut galt.
Denn so beginnt die Erzählung, mit der Oppositon von Publiko und Pöbel: das ungebildete, geistlose Volk erlebt Lust im Marionettentheater, das vornehme Publiko "außerordentliches Glück" im Ballett. Der Tänzer "C." aber empfindet Lust an der Marionette.
2b. Lust und Bewußtsein
"Ich" fragt erstaunt nach dem Selbstbewußtsein des "regierenden
Maschinisten": sei er Tänzer, Künstler? C.s Antwort folgt nicht
dem Entweder-Oder von Mechanik oder Gefühl und fordert beides. Die
Linie des Schwerpunktes sei mechanisch leicht zu führen, aber geheimnisvoll,
sie beschreibe den "Weg der Seele des Tänzers" (welches Tänzers?)
und könne nur dadurch gefunden werden, "daß sich der Maschinist
in den Schwerpunkt der Maschine versetzt, das heißt mit anderen Worten t a n z t ." Tanzen ist ein anderes Wort für Sich-Versetzen.
"... wenn ihm ein Mechanikus nach den Forderungen, die er an ihn zu
machen dächte, eine Marionette bauen wollte, (würde) er vermittelst
derselben einen Tanz darstellen, den weder er, noch ein anderer geschickter
Tänzer seiner Zeit ... zu erreichen imstande wäre."
C. kennt die Seele des Tanzes und kann sie besser in Maschinen als im
Körper darstellen. Seine Marionette benötigt dazu keine technischen
Besonderheiten, sie ist wie jede Marionette, nur: "mehr naturgemäß". Dann könne kein Mensch den "mechanischen Gliedermann" an Anmut erreichen.
(Nur ein Gott). Dessen Vorteil sei sein Mangel an Ziererei. Ziererei ist,
wenn die Seele des Bewegten (vis motrix, die antreibende Kraft!) in anderem
Punkt als der Schwerpunkt der Bewegung sitze (sonst säße etwa
Paris' Seele im Ellenbogen. C.s Beispiele - Daphne und Apoll, sie flieht
vor ihm, und Paris wählt - zitiert 1. heidnische Motive, da gibt es
kein christliches Paradies, und sind 2. von einem Geschlechterdualismus
geprägt, der hier besonders gewalttätig und hierarchisch geprägt
ist und zu keiner Art von Erfüllung kommt).[11]
"'Solche Mißgriffe', setzte er abbrechend hinzu, 'sind unvermeidlich,
seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies
ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um
die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder
offen ist." Hier geht es nicht vor noch zurück - aber seitwärts,
höchstens in einer schrägen Bewegung, nicht offensichtlich geradeheraus
wird die Seele ihr Ziel erreichen.
Später wird C. eine weitere Geschichte erzählen, als Antwort
auf die vom Jüngling, in der er mit einem Bären zu fechten versucht,
und in der schräge Bewegungen nicht ans Ziel kommen. C. sollte dem
Bären "eins beibringen", wollte ihn durch Finten verführen, worauf
dieser nicht reagiert, ausgeführte Stöße aber mit ganz
kurzen Bewegungen (effektiv) pariert. "Aug in Auge, als ob er meine Seele
darin lesen könnte", rührt der Bär sich nur, wenn C.s Stöße
ernstgemeint sind. Die Künstlichkeit der Bewegung ist somit an der
Intention der Seele vorher ablesbar, das Auge ist der Spiegel der Seele
und gibt dem Bären das durch kein Bewußtsein verfälschte
Bild wieder, so wie Ich die wahre Anmut des Jünglings im Spiegel sah,
bevor dieser darin eine identische Wiederholung versuchte. (Wurde interpretiert
als Fortsetzung der Spaltung Geist/Körper, der das Tier nicht unterliege,
da es keine Lüge kenne...[12].) C. ist aber nicht nur, wenn man so will,
Teil des Fußes, sondern schlüpft auch in die Rolle des Bären,
wenn er etwa im Dialog an anderer Stelle Antworten "versetzt", so wie der
Bär Fechthiebe. Der literarische Entwurf verteilt also die Positionen
von Wissen und unschuldigem Nichtwissen nicht auf konstante Figuren, sondern
quer durch den Text. "Wissen" kann nicht mehr verkörpert werden, sondern wird relativ, funktioniert von wechselnden Positionen aus, gerät so
- in Bewegung.
3. Wissen und Unschuld
In beiden Geschichten geht es nicht um Tanz, aber darum, was eine Bewegung
bedeutet. Immer gibt es einen Betrachter und einen, der sich bewegt; immer
weiß der Betrachter mehr als der andere über dessen eigene Bewegung,
und die Bedeutung der Bewegung wird durch einen Spiegel vermittelt. Durch
einen Rahmen. Virtuelle Realität soll diesen Rahmen abschaffen und
"hinter den Spiegel" versetzen, wie es z.B. im Buchtitel "Virtual Reality.
Through the new looking glass" heißt (zitiert wird hier ein weiteres
Buch, Lewis Carrolls Fortsetzung von Alice im Wunderland, deutsch: Alice
hinter den Spiegeln). Wie kommt man nun dahinter? Kleists Grazie liegt
in einem Körperbau entweder ganz ohne Bewußtsein oder mit unendlichem
Bewußtsein (Gliedermann/Gott) und ist für den Menschen nur durch
ein zweites Essen vom Baum der Erkenntnis zu erlangen, durch das er wieder
in den Stand der Unschuld zurückfalle (das "letzte Kapitel der Geschichte
der Welt").[13] Dieses Kapitel wird nun von den neuen Beschreibungen
der betreffenden Medientechnik "virtuelle Realität" genannt. Hieß es beim Literaturwissenschaftler Benno von Wiese noch:
"Die ideale Puppe ohne Maschinist ist für Kleist ein Wesen, das
vorerst nur als gedachtes existiert, aber vielleicht später einmal
'hervorgebracht' werden kann. Es ist unschwer einzusehen, daß eine solche, in eine unbestimmte, recht ungewisse Zukunft projizierte Puppe
in den Bereich der Utopie gehört"[14], jenseits des Tragischen und Gebrechlichen, mechanisch vollkommen, in paradiesischem Glück, so scheinen virtuelle Körper, virtuelle "Wesen" und ihre Bewegungsarten diese Utopie zu verwirklichen mit ihrer Schwerelosigkeit, Lebendigkeit, pausenlosen Beweglichkeit
und Präsenz, womöglich Unsterblichkeit. Im Vortrag von Nadia
Magnenat-Thalmann wurde bereits ein solches Projekt vorgestellt: die virtuelle
Marilyn Monroe (schon qua realem Vorbild konnotiert mit Verführung,
Sinnlichkeit, Unschuld, Macht und Tod) soll bald selbständig ohne
Maschinist ein eigenes unvorhersagbares Verhalten entwickeln (bereits jetzt
findet sie "autonom" aus einem Labyrinth heraus, nachdem schon 1993 publik
gemacht wurde, Monroe gleiche zu 80% der echten und solle in 2-3 Jahren
nicht mehr zu unterscheiden sein[15].
4a. Die Puppe
Bezeichnet also das Wort "Marionette" etymologisch (nach der gr. Wurzel, die sich im 16. Jh. in Frankreich einbürgert) "... einen Gegenstand
des Staunens, ein künstliches Wunderwerk, das unsere Alltagserfahrung
übersteigt", die Stelle, wo "das verfügbare Wissen unerwartet
an Grenzen" stößt[16], so könnte eine autonome digitale "Person"
tatsächlich diese Marionette im Wortsinn sein (auch wenn Nadia Thalmann
unablässig deren Alltäglichkeit betont).
Die idealen Marionetten von C.
3b. Tanz und Mechanik
Die naturgemäße Mechanik des Gliedermannes bei Kleist nimmt
allerdings tatsächlich in der Beschreibung, wie deren Glieder funktionieren,
die Prinzipien vorweg, die jetzt unter der Bezeichnung "inverse Kinematik"
das Gliederspiel der virtuellen Körper berechnen und steuern (Abfolge
der Glieder, die Bewegung geht jeweils von einem Punkt aus, ein Gelenk
veranlaßt die Bewegung des nächsten). So, sagt C., seien nicht
Myriaden von Fäden nötig (da jede Bewegung einen Schwerpunkt
hat, sei nur dieser im Inneren der Figur zu regieren - Glieder folgen von
selbst). - Ein VR-Techniker beschreibt:
5. Simulation
Fast 200 Jahre später zielt Simulation auf den "letzten Schliff"
der simulierten Kinematik, von Florian Rötzer beschrieben als
5. Exkurs: Wissenschaft
Habe ich jetzt einen zulässigen Vergleich vorgenommen zwischen
"bewegten Gelenken in literarischen und digitalen Paradiesen"? Hinkt er
nicht schon, weil im literarischen Beispiel Betrachter und Bewegte in einem
Medium, einem Text und nicht in unterschiedlichen Registern wie "real"
und "imaginär" existieren, während in der Beschreibung von "Home
of the Brain" ein Bericht aus dem wirklichen Leben auf ein imaginäres
Beobachtetes trifft?
Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob es eine gute oder
überhaupt eine zulässige Verknüpfung ist (und ob die Register
in einem Text wie von Monika Fleischmann wirklich zwei unterschiedliche
sein können). Ich frage mich allerdings: Wie soll es überhaupt
möglich sein, von neuen Abbildungssystemen zu sprechen, wenn sich
diese möglicherweise der Sprache entziehen (was zu diskutieren wäre)?
Hätte Kleist mit einem Marionettenspiel auf sein Thema geantwortet
statt in den Berliner Abendblättern per Print, wüßten wir
heute nichts davon. Und um sich der (immer noch nicht näher bestimmten)
Größe "virtuelle Realität" zu nähern, ohne selbst
eine zu bauen und Sie alle mitzunehmen, müssen hinkende statt flüssige
Gelenke eingebaut werden. Schließlich greifen auch die Kritiker und
Apologeten der VR auf traditionelle Vorstellungen und Begriffe zurück
(und mich interessiert dieses Verhältnis: wie ein neues Medium, wie
dessen Bewegtheit, Informationstransport, Eintaucheffekt überhaupt
beschreiben, geschweige denn "kritisieren" - seine Ideologie entsteht doch
gerade im Verhältnis zum Alten.) Wie sollte man behaupten oder widerlegen
wollen oder bewerten, aber zunächst auch nur konstatieren, Marilyn
sei "autonom", ohne auf (Autonomie-)Begriffe zurückzugreifen, die
unter ganz anderen medialen Vorzeichen entstanden sind?
Die Literaturtheorie hat die Möglichkeit (geschaffen), Kleists Text und Motive auf ihr Medium zu beziehen (für neue Medien wäre das noch zu leisten): so hat Paul de Man das Spiel der Glieder und Gelenke und ihre Steuerung als Funktionsweisen von Sprache gelesen. "Die ästhetische Kraft hat weder in der Puppe noch im Puppenspieler ihren Sitz, sondern in dem Text, der sich zwischen ihnen entspinnt. Dieser Text ist das Transformationssystem, die Anamorphose des Fadens, wenn er sich dreht und in die Tropen der Ellipse, der Parabel und der Hyperbel windet."[25]
7. Verschmelzen oder unterscheiden
Anläßlich der Gedichtzeile "How can we know the dancer from
the dance?", wie ließe sich Tänzer und Tanz unterscheiden, fragt
Paul de Man nach dem Verhältnis von Code und Träger der Bedeutung
(und, mit der zweiten Bedeutung von "know", auch nach dem Wissen). Was
poetisch/literarisch als Unentscheidbarkeit gelesen wurde, hieße
übertragen: der Tanz der Marionette ist ebenso Körper wie Code,
Materie und Informationsgehalte der Materie können nicht getrennt
werden. De Man schlägt vor, die Frage danach zu stellen, ob diese
beiden "eben nicht so vorzüglich zueinander passen, daß jeder
Unterschied zwischen ihnen zeitweilig getilgt ist, da vielmehr die zwei
wesentlich verschiedenen Elemente, Zeichen und Bedeutung, in der imaginierten
'Gegenwart', die das Gedicht anruft, eng miteinander verschränkt sind, wie sollen wir da die Unterscheidungen treffen können, die uns vor
dem Irrtum schützen, zu identifizieren, was nicht miteinander identifiziert
werden kann."[26] Tanz und Tänzer scheinen untrennbar (sogar die
Wörter sind teilweise buchstabengleich; ein R macht den Unterschied
zwischen dancer und dance. Und - zufällig - steht R in VR für
Reality. Wer weiß, was real ist, kann sagen, was nicht real ist.
Die Differenz bleibt bestehen, der Realitätsbegriff verschiebt sich
nicht). Unterscheidbarer als Tanz und Tänzer scheinen Tanz/ Marionette/
Marionettenführer. De Man will sich und uns vor dem Irrtum schützen;
plädiert für eine neue Literalität. VR will miteinander
identifizieren lassen was nicht miteinander identifiziert werden kann,
ohne Frage nach der Möglichkeit von Irrtum, sondern will ihn abschaffen.
So heißt es in kurzen Definitionen:
"Die Druckmedien und das Buch erzählen. Die Bühne und der
Film zeigen. Der Cyberspace verkörpert."[27] - "Der Filmemacher
sagt: 'Sieh mal, ich zeige es Dir.' Der spacemaker sagt: 'Schau, ich helfe Dir, es zu entdecken.'"[28] - "Solange Sie den Bildschirm sehen,
sind sie nicht in der virtuellen Realität." Erst wenn der Bildschirm
verschwindet.[29] Immersion, Eintauchen wird ebenso beschrieben: "Wenn
der Benutzer nicht sagen kann, welche Realität real und welche virtuell
ist, dann ist die computererzeugte Realität immersiv."[30] Sybille
Krämer schließlich kommentiert: "Während die Zentralperspektive
suggeriert, daß real ist, was Bezug auf einen externen Beobachter
hat, wird die virtuelle Realität zum Sinnbild dafür, daß
der Standpunkt des externen Beobachters - wird er absolut gesetzt - selber
illusorisch ist."[31]
Dagegen konstatierte de Man: "Das Problem ist nicht mehr das der anmutigen
Nachahmung, sondern das der Fähigkeit, zwischen der wirklichen Bedeutung
und dem Prozeß der Bezeichnung zu unterscheiden."[32] Nicholas
Negroponte auf der anderen Seite nennt "das Geheimnis des Interface-Designs:
Die Oberfläche muß verschwinden." - "Die Umrandung des Bildschirms ... wird immer weniger eine Grenze für große und kleine Bilder
darstellen, und einige der einfallsreichsten digitalen Apparate der Zukunft
werden überhaupt keinen Rand mehr besitzen."[33][34],
Wer aber, so wieder de Man, in einen Rahmen, eine Spiegel, einen Text
schaut, begibt sich in Gefahr. "Der Status der Lesehandlung bleibt also
gefährlich in der Schwebe zwischen Simulacrum und Wirklichkeit; Fechten
ist für eine solche Lage der Dinge die passende Metapher. Der Tod
steht im Zentrum der Aktion..."[35]
Und Ivan Sutherland, einer der maßgeblichen Entwickler "virtueller
Realität" (z.B. mit dem Datenhelm 1968), beschrieb 1965 die Konsequenz
eines Mediums, das in Anspruch nimmt, in einer "totalen Darstellung"
den Unterschied zwischen Realität und Simulation zu verwischen, indem
sie materiell auf die menschlichen Sinne einwirkt, dabei aber mehr als
Illusionen hervorruft, sondern auch Realitäten schafft (wovon Telerobotik,
Fernoperationen, Marsarbeiter zeugen). Diese künstlich geschaffene
Welt (die zu benutzen sonst stets als Eintritt in das Paradies gehandelt
wird) muß miteinschließen: den Tod.
"'Das endgültige Display', so schreibt Sutherland, 'wäre ein Raum, in dem der Computer die Existenz der Materie kontrolliert. Auf einem in einem derartigen Raum dargestellten Stuhl könnte man sich setzen. Die in einem solchen Raum dargestellten Handschellen könnten fesseln, und eine Kugel wäre tödlich. Mit der entsprechenden Programmierung könnte eine solche Darstellung buchstäblich das Wunderland sein, durch das Alice wanderte.'"[36]
Wenn VR auszeichnen soll, daß die alten Schranken zwischen V
und R fallen, kann sie nicht mehr nur das Wunderland/Paradies versprechen.
Daß der fliegende Dicke von Art+Com mit dieser umfassenden Umgebung
zusammenhängt, möchte ich im folgenden entwickeln. Nach dem 'Eintauchen' steht mit dem 'Skelett' schließlich ein Bild von 'Tod' an. Und schließlich gibt es auch ein Bild von 'Geschlecht'.
7. Das Eintauchen
VR bezeichnet eine Gesamtheit von elektronischen Apparaturen, die computererzeugte Bilder zeigt (in Datenhelm, Brillenarten, auf Wänden, Monitoren oder Caves, theoretisch auch auf der Retina) und diese auf Bewegungen (meist auch Sprache) der Benutzer hin in Echtzeit verändert. Diese Interaktivität, Geschwindigkeit, Einsatz "natürlicher" Kommunikationsmittel, der Einsatz von räumlicher Orientierung, Navigation und Manipulation ... zielt auf die Aktivierung möglichst vieler Sinne, damit das Gefühle einer medialen "Umgebung" entsteht, in die der Benutzer eingetaucht sei.[37]
In der "ultimativen" Technologie sollte "der Computer verschwinden und dem Benutzer erlaubt sein, in natürlicher Art mit Augen, Ohren, Füßen und Händen zu navigieren."[38] Die alten Mensch-Maschine-Schnittstellen (Interfaces), die sich zum Graphischen/Ikonischen bis hin zum "Schreibtisch" entwickelten, "ließen uns außerhalb des Bildschirms", aber VR ließe uns durch das Glas hindurchtreten (in eine "Umgebung").[39]
"Der Computer war nicht mehr dieses abgetrennte Ding, vor dem man saß
und das man anstarrte; jetzt war man komplett drinnen. Man kommunizierte
jetzt durch Sprache und Gesten anstatt durch Tippen und Fluchen."[40]
Nach 30 Jahren IBM-Dominanz, so Fleischmann und Strauss, die "einschneidender in der Verbiegung der Körper und der Sinne als 40 Jahre DDR-Herrschaft" gewesen sei, sei nun ohne Verbiegung, mit natürlichem Körpereinsatz, das "Durchdringen der Mauern der Wirklichkeit möglich" mit einem "Gefühl von Präsenz" durch intuitive Interfaces, Helm und Glove, unmerkliche, unsichtbare Integration. ("Interaktivität ist die Zauberformel für ein 'Zurück ins Leben'!" gegen Entfremdung. Technik hilft, die Sinne
wiederzufinden.)[41] Was hier "Gefühl von Präsenz" genannt wird, hat der Negroponte-Übersetzer "Gefühl des Dabeiseins" genannt,[42]
nach dem englischen Begriff sense of presence, dem zentralen Kritierium
für die Qualität des Eintauchens. (Auch: sense of being there.[43]
Von Negroponte mit dem 'Echtheitsgrad aus Bildqualität und v.a. Reaktionszeit' erklärt[44], in Peter Weibels "sieben Stufen der Bildentwicklung" Kriterium für die Einteilung der Medien durch Immersionssteigerung bis hin zu Neurochips.[45]) Der sense of presence wird erstens durch den Gesichtssinn
bestimmt und zweitens durch die Eingabemöglichkeit per Körperbewegungen.
Das Sehen folgt dabei der bekannten Verknüpfung mit Wissen: "Wenn
Du sehen könntest, was ich meine, wärest du, in einem gewissen
tiefen Sinne, ich - der point of view ist alles (...). Zu sehen, was wir
meinen, das ist ... die erstrebenswerte Anwendung der VR-Technologie."[46]
Hier handelt es sich nicht einfach um ein vielleicht nicht übersetzbares
englisches Idiom (I see what you mean), sondern um die Überzeugung,
die Kanäle in virtueller Realität ließen vorsprachliche,
universelle, intuitive Kommunikation zu.[47] Myron Kruger beschreibt
schon die Einbeziehung von Dreidimensionalität als Weg zu den ureigensten
menschlichen Fähigkeiten ("what we evolved to understand" [48]), denn die Fähigkeit zur Symbolmanipulation sei im Vergleich zur allgemeinen, angeborenen Wahrnehmungsfähigkeit elitär. "If we see it, we can
know it. If we cannot, we can only talk about it."[49] Auch Jaron Lanier
propagiert eine "Kommunikation ohne Symbole": z.B. die direkte Wahrnehmung des Erlebens der Natur, etwa bei einem Waldspaziergang, gehe "den Symbolen voraus und übertrifft sie. Das braucht man nicht zu beweisen." -"Ein Beispiel für eine nach außen gehende Kommunikation ohne Symbole ist die Bewegung des eigenen Körpers. Man sendet seinem Arm oder seiner Hand kein Symbol; man teilt sich ... vorsymbolisch mit."[50] Das schließt logisch an Myron Krugers Vorstellung an, nach der jedes System, das das körperlich Erlernte beachtet, sofort von jedem Menschen auf diesem Planeten verstanden werden könne. [51] Sprache, so Lanier, könnte nur Einzelsymbole bieten, die Welt sei aber kontinuierlich und nur mit Gesten, nicht mit Worten abzubilden.[52] Mit einem Griff in die menschliche Urgeschichte[53] schreibt er:
7a. Die eigene Hand
Die "Erschaffung der ersten universellen Metasprache" beginnt interessanterweise bei der Hand.
(Und hier kann ich leider nur verweisen auf die Gebärdensprache,
ihre Aufzeichnung, ihre Eingabe in den Computer, Gebärdenspracherkennung
per Datenhandschuh, auch ihre sprachhistorische Situierung am Beginn der
menschlichen Sprachentwicklung... Verweis auf Marey: 1888 die ersten Aufnahmen
auf lichtempfindlichen Papierbändern, 20 Bilder/sec., "Die frühesten gefilmten Bilder von Bewegung, die jemals öffentlich zu sehen waren": die vom Taubenflug und vom Öffnen und Schließen einer Hand [60] Vgl.auch
Mareys skelettähnliche Bewegungsaufzeichnungen eines schwarzgekleideten
Körpers...).
7b. Sichhineinversetzen
Der Tänzer C. wollte sich in seine Marionette hineinversetzen.
Der Avatar der indischen Literatur propagiert genau das ("Hinübergehen":
von hier nach da, von einem bestimmten Ort zum anderen)[66]. Nur die VR-Entwickler
wollen die literarischen Bewegungen zwischen zwei Orten zur Bewegung innerhalb
eines Ortes/Raumes machen. Der literarische Avatar wird umgedeutet. Der
literarische Avatar bei Kleist war der Dornauszieher; das Bild eines Körpers,
das von einem anderen Körper zitiert werden soll - ein Hineinversetzen
andersherum. Das Bild der Statue in das Bild des Körpers hineinzuversetzen,
gelänge nur im Status der unschuldigen Ununterscheidbarkeit von Zeichen
und Zeichen. Der Geist, den noch Kleists anmutiger Jüngling vergeblich
im Spiegel zu sehen versuchte, war die Wiederholbarkeit von Abbildung.
In VR, sagt zwar Lanier, werde nicht wiederholt, sondern geschaffen. Ein
bewegter Avatar jedoch muß die Bewegungen des Benutzers in Echtzeit
wiederholen.
7c. Animation
Wie könnte dieses Sichhineinversetzen technisch realisiert werden?
Für den Tanz sind in den letzten Jahren mehrere Systeme erprobt worden
(für Hand- und Fingerbewegungen mit dem Dataglove schon früher...).
Bei der Motion Capture Analysis und der anschließenden Performance
Animation werden über optische, magnetische u.a. Systeme die Bewegungen
eines mit entsprechenden Sendern/Reflektoren präparierten Körpers
aufgezeichnet und/oder in Echtzeit ("live") auf eine digitale Figur übertragen.
"Ein 'Puppenspieler' (engl. puppeteer), im Grunde der Schauspieler oder
Tänzer, bewegt sich, dreht sich, tanzt und trägt dazu an wesentlichen
Stellen des Körpers, wie dem Kopf, Händen oder Beinen, magnetische
Sensoren."[67] Im Grunde ist der, der animiert, auch der, der tanzt.
Im 'Grunde', im 'Eigentlich' ist die Differenz mitgeschrieben. Wie bei
Kleist!
Aber: bedauert wird die schlechte, weil "mechanistische" Qualität
der in VR wiedergegebenen Bewegung. Bei Kleist ist die Mechanik als 'Natur-Gesetz'
noch positiv besetzt; der VR scheint es zuviel 'Gesetz' im 'Natur-Gesetz'
zu geben: sie geht auf 'reine Natur'. Nach der menschlichen Natur liegt
dem Körper ein Skelett zugrunde, und das ist der Ausgangspunkt für
virtuelle Wesen und für Marionetten.
Es muß wohl um Belebung gehen, um eine Demonstration der menschlichen Macht gegen den Sensenmann, der nun nach der Pfeife der Lebendigen tanzen soll. Die Wiederauferstehung der Toten geht zudem einher mit einer quasi-paradiesischen Gleichheit: ein einzelnes Skelett ist kaum als männlich oder weiblich zu bestimmen (nur für die Fachfrau, aber die Frage stellt sich auch auf den ersten Blick nicht). Auch "die Marionette" war bei Kleist nicht endgültig geschlechtlich bestimmt (einerseits grammatisch feminin, andererseits paraphrasiert als 'Gliedermann'), als sei das Geschlecht egal, ganz im Gegensatz zur angestammten Welt des Tänzers C., dem klassischen Ballett mit seinen streng aufgeteilten Geschlechterrollen[70], und ebenso im Gegensatz zu jenem Teil der Avatare, der in der Öffentlichkeit/ Pressebeispielen am verbreitetsten ist (mit betont weiblichen Formen). Und: Ebenso wie es einen Daniel Thalmann gibt, gibt es eine männliche Marilyn. Auch Humphrey Bogart wird programmiert. Beide männlichen Figuren fallen weitgehend aus den öffentlichen Darstellung dieses Arbeitsfeldes heraus. Läßt sich hier eine Fortsetzung der historischen Verbindung Automat, Puppe, Frau lesen?[71] War Kleist auch für heutige geschlechterpolitische Verhältnisse revolutionär mit seinem Entwurf, die schillersch-männliche Würde zugunsten der Anmut am Beispiel einer männlichen Figur auszutragen, während heute die digitalen Elfen meist weiblich sind?
8. Virtus, die Tugend
Und wie sollten sie auch anders sein, ist doch die Geschichte des Begriffs
'virtuell' mit der 'Tugend' verknüpft, die kaum je geschlechtsneutral zu denken war. Der Wissenschaftsjournalist Benjamin Woolley schreibt:
"'Virtuell' als Fachausdruck ... reicht bis zu den Ursprüngen
der modernen Wissenschaft zurück. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts bezeichnete
die Optik damit das gebrochene oder reflektierte Bild eines Gegenstandes."
- Insofern wäre auch der Dornauszieher im Spiegel virtuell zu nennen.
-- " Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieben die Physiker von der 'virtuellen
Geschwindigkeit' und dem 'virtuellen Moment' eines Teilchens. Das Wort
wird in der Physik heute noch verwendet, um das exotische Verhalten subatomarer
Teilchen zu beschreiben, die eine derart kurze 'Lebensdauer' haben, daß
kein Detektor sie registrieren kann." - virtuell heißt also auch:
'vielleicht ohne Leben' --" Ein langer Weg führt auf seinen Ursprung
zurück; es war anfangs die Adjektivform des Wortes virtus (lat. Tugend),
und damals bedeutete 'Tugend' noch, Anteil an der göttlichen Macht
zu haben. Ein Nachhall dieser frühen Bedeutung klingt jedoch noch
in den aufgeregten Behauptungen der virtuellen Realisten nach, sie hätten
die Macht, ihre eigenen Welten zu schaffen. Und es ist angemessen, daß
bei dem Wort ein gewisses Maß an tieferer Bedeutung mitschwingt,
denn bei dem datentechnischen Begriff 'virtuell' geht es um weit mehr als
nur bloße Technik. Er berührt den wissenschaftlichen Kern der
Realität."[72]
Der Kern, die Frage nach dem Wissen, berührt von virtus. Woolleys
Formulierung "nur Technik" versus "tiefere Bedeutung" scheint in ihrem
Dualismus obsolet, wo virtuell "Inhalt und Form" gleichermaßen betrifft,
das Erschaffen wie die Darstellung, das Leben wie das Vielleicht-nicht-Leben;
virtus ist die Eigenschaft (das Adjektiv) von Tugend, und wenn es traditionell
die Frau sein sollte, die tugendhaft sei, so eröffnet sich schließlich
um virtuell und weiblich ein Feld mit einigen Widersprüchen.
Schließlich ist also zu fragen: wo ist hier die Frau? Und das nicht im Sinne psychosozialer Verhaltensmuster, wie sie von BenutzerInnen berichtet werden - haben Männer oder Frauen im Cyberspace die Hände in den Hostentaschen?[73] Bleibt "Frau" der Name der biblischen Schaltstelle von Tugend zu Laster - oder umgekehrt vom Laster zu einer Tugend, wenn ein bewegter Avatar jeden Benutzer und Zuschauer heute dazu verführen soll, eine neue Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen (Kleists zweiter reinigender Sündenfall), um sich bewußt für einen Zustand zu entscheiden, in dem es nicht mehr zählt, ob man/frau nackt oder bekleidet, ursprünglich oder bezeichnet ist? Der Geist im Spiegel, der bewegte Avatar, ist somit am logischen Ort der Frau, die zwar als virtuelle Gestalt nicht anmutig, weil mechanistisch (also klassisch unweiblich) ist.
9. Vor der Repräsentation
10. "Frau"
Daß dahinter auch noch andere Geschlechterklischees wirksam sind,
die nicht unbedingt eines sichtbaren Busens bedürfen, um als weiblich
zu gelten, bedarf eines zweiten Blicks: auf den Bezug von "Weiblichkeit"
zur Rede von der Auflösung der Grenzen.
Weiblichkeit wird einerseits als eins von zweien, als das Andere des
Einen, als jenseits einer Grenze, die den Geschlechterdualismus produziert,
ein Teil des Paars männlich-weiblich definiert. Gleichzeitig ist Weiblichkeit
konnotiert mit dem Auflösen von Grenzen, insofern sie auf der Seite
der 'Natur', und d.h. gegenüber den 'Gesetzen', die die Zivilisation, das nicht-Zyklische usw. konturieren, angesiedelt. Auch diese Wunschmaschine wird sichtbar: aber nicht mehr im Bild einer Frau, sondern in den Entwürfen von Designern und Theoretikern.
Die ja vielleicht mit einer Formel von Jacques Derrida ins Tanzen geraten.
Er schreibt in "Choreographien": Wenn der Ort der Frau historisch immer
ein abgeleiteter, ein A-topos ist, ist diese A-topie eine tanzende ("the
displacement of woman"). Im Platzwechsel liege die Möglichkeit von
Nichtbestimmung: "The dance changes place and above all changes places."[77] "The lack of place... this bit of luck can also compromise the political
changes of feminism and serve as an alibi for deserting organized, patient
laborious 'feminist' struggles."[78]
"Frau" ist also die, die tanzt.
Gesetzt den Fall, es gibt eine Bewegung.
1. Kleist
Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, Hg. Klaus Müller-Salget, Frankfurt/M. 1990 (Dt. Klassiker Verlag) (ges. 4 Bde. hg. von Ilse-Marie Barth u.a.), 555-563
Klaus Müller-Salget, Kommentar zum Marionettentheater, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, Hg. Klaus Müller-Salget, Frankfurt/M. 1990 (Dt. Klassiker Verlag) (ges. 4 Bde. hg. von Ilse-Marie Barth u.a.), 1137-1147
Andrea Gnam, Die Rede über den Körper. zum Körperdiskurs in Kleists Texten "Die Marquise von O..." und "Über das Marionettentheater", in: Heinrich von Kleist, hg. Heinz Ludwig Arnold in Zusammenarbeit mit Roland Reuß und Peter Staengle, Sonderband von TEXT + KRITIK, München 1993, 170-176
Gerhard Kurz, "Gott befohlen". Kleists Dialog "Über das Marionettentheater" und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins, in: Kleist-Jahrbuch 1981/1982, Hg. Hans Joachim Kreuzer, Internat. Kleist-Kolloquium 1981, Berlin 1983, 264-277
Rüdiger Bubner, Philosophisches über Marionetten, in: Kleist-Jahrbuch 1980, Hg. Hans Joachim Kreuzer, Berlin, 73-85
Benno von Wiese, Das verlorene und wieder zu findende Paradies. Eine Studie über den Begriff der Anmut bei Goethe, Kleist und Schiller, in: Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen, m.e.Nachwort hg. von Helmut Sembdner, Berlin 1967 (Erich Schmidt Verlag), 196-220
Hanno Möbius, Jörg Jochen Berns (Hg.), Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, Marburg 1990 (Jonas)
Hanno Möbius, Jörg Jochen Berns, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Die Mechanik in den Künsten, 7-15
Armin Geus: Vom Ersatz der Glieder oder die Überwindung des Verlustes. Zur Geschichte der Prothesen, in: Hanno Möbius, Jörg Jochen Berns (Hg.), Die Mechanik in den Künsten, 83 ff.
Hanno Möbius: Teilung und Zusammensetzung. Heinrich von Kleist und die Entwicklung zum Rhythmus-Begriff in Tanz und Arbeit sowie in der Literatur, in: Hanno Möbius, Jörg Jochen Berns (Hg.), Die Mechanik in den Künsten, 169-181
Gerhard Pickerodt: Heinrich von Kleist. Der Widerstreit zwischen Mechanik und Organik in Kunsttheorie und Werkstruktur, in: Hanno Möbius, Jörg Jochen Berns (Hg.), Die Mechanik in den Künsten, 157-164
Giorgio Agamben: Noten zur Geste, in: Postmoderne und Politik, Hg. Jutta Georg-Lauer, Tübingen (edition diskord) 1992, übers. von Elisabetta Fontana-Hentschel, bearb. von Alexyander García Düttmann, 97-107
Marianne Schuller, Zeichendämmerung - Fragezeichen. Zu Nietzsche, in: Dies.: Moderne.Verluste. Basel/Frankfurt (Stroemfeld) 1997,135-142
Paul de Man, Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater, in: Ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988 (Suhrkamp), 205-233, übers. v. Werner Hamacher
Paul de Man, Semiologie und Rhetorik, in: Ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988 (Suhrkamp), 31-51 (zuerst 1979 in Allegories of Reading, Yale Univ. Press) übers. von Werner Hamacher und Peer Krumme
Peter Gendolla, Die lebenden Maschinen. Zur Geschichte der Maschinenmenschen bei Jean Paul, E.T.A. Hoffman und Villiers de l'Isle Adam, Marburg 1985 (Guttandin und Hoppe)
Arnd Wesemann: Die Spiegelspiele der neuen Medien. Die Geschichte des Tanzes war immer auch eine Geschichte der Technologien, in: ballett international/tanz aktuell, Heft 8/9, August 1997, Hg. Arnd Wesemann (Erhard Friedrich Verlag) (Doppelheft zum Thema Tanz und Technologien), 36-39
Gabriele Brandstetter, Choreographie und Memoria. Konzepte des Gedächtnisses von Bewegung in der Renaissance und im 20. Jahrhundert, in: Claudia Öhlschläger, Birgit Wiens (Hg.), Körper - Gedächtnis - Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin (Erich Schmidt) 1997, 196-218
Janine Schulze, Erinnerungsspuren - Auf der Suche nach einem gender-spezifischen Körpergedächtnis im zeitgenössischen Bühnentanz, in: Claudia Öhlschläger, Birgit Wiens (Hg.), Körper - Gedächtnis - Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin 1997, 219-234
David E. Smith, Gesture as a Stylistic Device in Kleist's "Michael Kohlhaas" and Kafka's "Der Prozeß", Bern/Frankfurt/M. 1976 (Peter Lang), Stanford German Studies vol. 11
2. Virtuelle Realität
Nadia Magnenat Thalmann, Daniel Thalmann, Computer Animation in Future Technologies, in: Dies. (Hg.), Interactive Computer Animation, London/New York u.a. 1996 (Prentice Hall), 1-9
Roberto Maiocchi, 3-D Character Animation Using Motion Capture, in: Interactive Computer Animation, Hg. Nadia Magnenat Thalmann, Daniel Thalmann, London New York u.a. 1996 (Prentice Hall), 10 ff.
Nadia Magnenat Thalmann, Daniel Thalmann, Introduction: Creating Artificial Life in Virtual Reality, in: Dies. (Hg.), Artificial Life and Virtual Reality, Chichester (John Wiley & Sons Ltd.) 1994, 1-10
Annette Hünnekens, Der bewegte Betrachter. Theorien der interaktiven Medienkunst, Köln (Wienand Medien) 1997
Benjamin Woolley, Die Wirklichkeit der virtuellen Welten, Basel/Boston/Berlin 1994 (Birkhäuser), übers. von Gabriele Herbst
Bernd Willim, Charaktere belegen. Körperanimation per Motion Capture, in: c't 11/1996, 138-140
Gundolf S. Freyermuth: Stars von der Stange. Natürliche Schauspieler - eine aussterbende Spezies?, c't 7/1997, 94-101
Marta Braun, Picturing Time. The Work of Etienne-Jules Marey (1830-1904), Chicago/London (The University of Chicago Press) 1992
Georg Seeßlen, Gummimann, geh du voran, in: ZEIT 13, 22.3.1996, 84
Monika Fleischmann, Wolfgang Strauss: Digitale Körperbilder oder Inter-Faces als Schlüssel zur Imagination, in: Kunstforum International, Nr. 132, Die Zukunft des Körpers I, Nov.-Jan. 1996, Hg. Florian Rötzer, 136-141
Susie Ramsey: Nimm deinen Körper mit. Die Tansszene und neue Technologien, in: Kunstforum International, Nr. 133, Die Zukunft des Körpers II, Febr.-April 1996, Hg. Florian Rötzer, 139-142
Virtual Reality. Adam Heilbrun im Gespräch mit Jaron Lanier (aus: Whole Earth Review Herbst 1989, S. 108-119, übers. von Werner Rappl), in: Daedalus - die Erfindung der Gegenwart, Hg. Gerhard Fischer, Klemens Gruber, Nora Martin, Werner Rappl, Basel/Frankfurt 1990 (Stroemfeld), 63-69
Jaron Lanier: Kommunikation ohne Symbole, in: Cyberspace. Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, Hg. Manfred Waffender, Reinbek 1991 (13. Tsd. Okt. 1993), 88f.
Mathias Bröckers, Digital Magic, in: Cyberspace. Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, Hg. Manfred Waffender, Reinbek 1991 (13. Tsd. Okt. 1993), 90-98
Sybille Krämer: Vom Trugbild zum Topos. Über fiktive Realitäten, in: Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität, Hg. Stefan Iglhaut, Florian Rötzer, Elisabeth Schweeger, Ostfilden (Cantz) 1995, 130-137
Myron W. Kruger, Videoplace and the Interface of the Future, in: The Art of Human-Computer Interface Design, Hg. Brenda Laurel, Reading/New York u.a. 1990 (Addison-Wesley), 417 ff.
"Interaktivität ist ein Witz", Jaron Lanier im Gespräch mit Tom Sperlich, in: c't 6/1995, 68-71
Margaret Wertheim, Ehre sei Gott im Cyberspace, in: ZEIT 22, 24.5.96, 31
Tom Sperlich, Neues aus der Datenhöhle, in: ZEIT 47, 15.11.96, 78
Oliver Grau, Künstler für fünf Minuten. Die Virtuelle Realität bringt neue Spielregeln für die Kunst, in: c't 6/1997, 104-108
Arnd Wesemann, Homo erectus, in: screen multimedia 5/97, 94
Bernd Willim, Homo digitalis. Virtuelle Menschen sollen den Cyberspace erobern, in: c't 12/1996, 114-119
Tom Sperlich, Endstation Wirklichkeit. Sinnesintensive Erlebnisse in künstlichen Umgebungen, in: c't 11/1996, 112-116
Tom Sperlich, Gernot Schärmeli, Höhlenbewohner. 3D-Umgebung der virtuellen Art, in: c't 1/97, 78-81
Myron W. Krueger, An Easy Entry Artificial Reality, in: Virtual Reality. Applications and Explorations, Hg. Alan Wexelblat, Boston San Diego New York u.a. (Academic Press Professional) 1993 , 147-161
Ken Pimentel, Kevin Teixeira, Virtual Reality. Through the new looking glass, New York, St. Louis, San Francisco u.a. (Winderst Books) 1993
Steve Aukstakalnis, David Blatner, Cyberspace. Die Entdeckung künstlicher Welten, Köln 1994
Peter Weibel, Die Welt der virtuellen Bilder. Zur Konstruktion kontextgesteuerer Ereigniswelten, in: Weltbilder - Bildwelten. Computergestütze Visionen, Hg. Klaus Peter Dencker im Auftrag der Kulturbehörde Hamburg, Redaktion Ute Hagel, Tagungsband der Interface 2 (Hamburg Febr. 1993), Hamburg 1995 (Verlag Hans-Bredow Institut für Rundfunk und Fernsehen)
Florian Rötzer, Vom Bild zur Umwelt, in: Weltbilder - Bildwelten. Computergestütze Visionen, Hg. Klaus Peter Dencker im Auftrag der Kulturbehörde Hamburg, Redaktion Ute Hagel, Tagungsband der Interface 2 (Hamburg Febr. 1993), Hamburg 1995 (Verlag Hans-Bredow Institut für Rundfunk und Fernsehen)
Jean-Louis Boissier, Die Präsenz, Paradoxon des Virtuellen, in: Weltbilder - Bildwelten. Computergestütze Visionen, Hg. Klaus Peter Dencker im Auftrag der Kulturbehörde Hamburg, Redaktion Ute Hagel, Tagungsband der Interface 2 (Hamburg Febr. 1993), Hamburg 1995 (Verlag Hans-Bredow Institut für Rundfunk und Fernsehen)
Nicholas Negroponte, Total Digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder Die Zukunft der Kommunikation, (zuerst New York 1995, Being Digital, dt. zuerst 1995) überarb. Taschenbuchausgabe Müchen (Goldmann) 1997