Tischsitten
Konzept
und Organisation: Andrea Sick, TheaLit
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Tischsitten wollen "sittigen". Und dabei geht es wohl um vielmehr als um das Essen selbst. So können die Tischsitten, dargelegt in den zahlreichen Sittenbüchern, Diätiken, Kochbüchern, Benimmbüchern und Rezepturen, die alle Auskunft über die "richtige Tischsitte" geben, den Bedeutungswandel des Essens in seiner Vielschichtigkeit eröffnen. Dazu gehört auch die gesamte Tischordnung zu der Wahl und Präsentation des Tafelgeschirrs, der Tischwäsche und der Bestecke ebenso wie die Regeln des Serviettenbrechens zählen. Die Tischsitte bringt Wechselwirkungen von Affektkontrolle und Vulgärem oder "Tierischem" zur Geltung. Der Tisch dient dabei als Bindeglied, als Schauplatz, der immer nur eine partielle Kontrolle und Disziplinierung organisieren kann, und somit auf einen Rest verweist. Hier korrespondiert die Tischsitte mit disziplinierenden Diätregeln, die das "ganze Leben" meinen und doch nur partiell angewendet werden. Die Diätregeln formulieren schon seit der Antike eine geordnete harmonische Lebensweise oder Lebenskunst und sind spätestens seit der Neuzeit immer mehr auf Forderungen nach Mäßigung und Gesundheit als medizinischer Größe insbesonderer in Bezug auf das Essen konzentriert: auf Fragen nach Gewicht, Konsistenz, Verträglichkeit und Verdaulichkeit. Eine Tradition, der man sich auch gerne heute verpflichtet sieht, denkt man an die Diäten wie Trennkost, Rohkostdiät, Fruchtsaftdiät, Körnerdiät, Entschlackungskur um nur einige der Angebote zu nennen. Auch die "Darbietung bei Tisch", das "Tafelbild", vermittelt "Sittlichkeit". Präsentation, graphischeDarstellung von Menüs, ästhetische Verfeinerung des Essens und Augenlust sind zunächst Kennzeichen der barocken Küche. Sittlich wäre, daß sich ihre Funktion und Arbeitsweise scheinbar darauf konzentriert, mit der Ästhetisierung des Essens, die orale Lust verschwinden zu lassen. Eine Verschiebung von Mund zu Auge, die heute die Haute Cuisine, den Feinschmecker oder die Gestaltung der Kochbücher ebenso wie die Fast Food Kultur umtreibt. Den "Appetit des Auges" gilt es zu speisen. "Oralvision" könnte diese Augenlust heißen. Hier werden deutlich zwei sinnliche Eindrücke zueinandergestellt: das Schauen und das Essen. Was Auge und Mund verbindet, wäre die "Einverleibung": das Eindringen, Vernichten, Aneignen und Aufbewahren. Das "gefräßige" Auge - das z.B. auch die Kamera sein kann - wird immer bereit sein Fremdes miteinander unsittlich zu vermengen und sich so über den Sittenkodex hinwegsetzen. Bei Tisch wäre es dieses verschlingende Sehen, welches Sitte und Anstand hinter sich läßt. Die Tischsitte wird so zum Ausgangspunkt für Aktionen, Vorträge, Performances von Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, die sich sowohl mit dem "Akt des Essens" selbst als auch mit Ordnungen und Gesetzen bei Tisch als Schauplatz und Funktionsträger beschäftigen. |