DIE UNFREIWILLIGE SERIE - WIEDERHOLTE WIEDERAUFBAUTEN IM UMFELD DER
DENKMALPFLEGE
von Anja Krämer
Im weiteren Umfeld der Denkmalpflege läßt sich ein paradoxes Phänomen
beobachten: Gerade die Wertschätzung für ein individuelles Einzelobjekt
kann dazu führen, daß dieses verdoppelt oder vervielfacht wird.[1] Diesem
Phänomen soll an drei Beispielen - anhand eines Bürgerhauses aus Danzig,
eines weiteren Bürgerhauses aus Mainz und des aktuellen Beispiels von
Goethes Gartenhaus in Weimar - nachgegangen werden. Als Einleitung sollen
jedoch zunächst einige Gedanken zum Thema Architektur und Serie
vorangestellt werden.
SERIEN IN DER ARCHITEKTUR
Hausformen und Grundrisse
Standardisierte Grundrisse und Hausformen werden schon seit langer Zeit
beim Bau von Wohnsiedlungen angewandt. Dies trifft nicht erst für die
Arbeiterwohnsiedlungen des 19. Jahrhunderts oder gar erst für die modernen
Bauformen wie das Mietshaus, das Reihenhaus oder das Hochhaus zu.
Schon die aus dem frühen 16. Jahrhundert stammende Fuggerei in Augsburg
kann als Reihenhaussiedlung bezeichnet werden. Sie wurde zwischen 1514 und
1523 als Armensiedlung gebaut und bestand zunächst aus 52 Häusern.[2] Diese
52 Häuser bilden regelmäßige Hausreihen, die sich jeweils aus etwa fünf
bis sechs gleichartigen Einzelhäusern zusammensetzen. Jedes Haus beherbergt
eine Wohnung im Erdgeschoß und eine im Obergeschoß. Die Wohnungsgrundrisse
der Häuser sind größtenteils identisch.
Die in Stube, Küche, Flur und zwei Kammern gegliederten Grundrisse sind
nicht nur für die Fuggerei typisch. Unzählige Bauernhäuser Süddeutschlands
vom 15. bis zum 20. Jahrhundert zeigen dieselbe Anordnung der Wohnräume.
Bei der Wiederholung der gleichen Grundrißform an verschiedenen Orten und
zu verschiedenen Zeiten sprechen wir nicht von einer Serie. Vielmehr
erkennen wir in der Wiederholung einen Grundrißtyp, eine Standardgrundriß.
Dagegen bereitet es keine Schwierigkeiten, die Reihenhaussiedlung der
Fuggerei als serielle Architektur zu bezeichnen. Die Häuser besitzen nicht
nur denselben Grundriß, sondern auch die gleiche Gebäudeform, sie stehen am
selben Ort, sie wurden in einem begrenzten Zeitraum erbaut und es war
derselbe Bauherr, der sie errichten ließ. Vor allem aber liegt ihnen eine
gemeinsame Planung, eine gemeinsame Idee zugrunde. Selbst wenn nicht alle
der genannten Punkte erfüllt wären, könnte man noch immer von serieller
Architektur sprechen: Abweichungen in der Form, etwa in der Stockwerkzahl
oder der Hausgröße, würde man dann als Variationen begreifen. Einen neuen
Bauherren oder Baumeister würde man als einen Bauherren- bzw.
Baumeister-Wechsel beschreiben.
Als Schlußfolgerung aus der Betrachtung der Fuggerei läßt sich also
festhalten: Um von serieller Architektur zu sprechen, muß es mehr als ein
zusammenbindendes Merkmal geben. Abweichungen werden dann als Variation und
nicht als Andersartigkeit empfunden. Der Serie muß eine verbindende Idee
zugrunde liegen.
Baustil
Serialität in der Architektur kann nicht nur auf der Ebene von Gebäuden
und Gebäudegruppen festgestellt werden. So läßt sich beispielsweise die
Gotik als serieller Baustil beschreiben. Vor allem im Kirchenbau wird es
deutlich, wie stark die gotische Architektur von der Wiederholung, von der
dichten Reihung gleichartiger Groß- und Kleinformen lebt. Diese Tendenz zur
Reihung beginnt schon in der Romanik, indem die Kirchenschiffe in einzelne,
aufeinanderfolgende Abschnitte, z.B. Joche gegliedert werden. In der Gotik
steigert sich dieser Prozeß immer weiter. Am Beispiel der Sainte-Chapelle
in Paris läßt sich deutlich beobachten, wie die gesamte Wand in
Arkadenreihen, Fensterfolgen und profilierte Flächen aufgelöst ist. Auch am
Beispiel des Chorgewölbes des Münsters von Schwäbisch Gmünd haben sich die
Gewölberippen zu einem dichten Netz vervielfacht. Beide Beispiele stellen
Höhepunkte innerhalb der beschriebenen Entwicklung dar.
Da sich die Bauglieder in der Gotik wiederholen, ist es nur folgerichtig,
daß sie auch aus gleichartigen Einzelteilen zusammengesetzt wurden. In den
Bauhütten wurden die Formstücke, aus denen Bündelpfeiler, Fenstergewände
oder Maßwerke bestehen, mit Hilfe von Schablonen vorproduziert. Die ersten
Maßwerkfiguren am Übergang von der Romanik zur Gotik sind dagegen noch als
Lochformen aus großen Steinplatten oder aus dem Wandmauerwerk selbst
herausgeschnitten und nicht aus Einzelteilen zusammengesetzt.
Noch deutlicher erkennbar wird das serielle Produktionsverfahren,
betrachtet man die Bauten der Backsteingotik. Hier wurden neben den
üblichen rechteckigen Ziegeln Formsteine entwickelt, aus denen Dekorformen
wie z.B. Gewölberippen, Wandvorlagen oder Maßwerke gemauert werden konnten.
Aus der Verarbeitung dieser Ziegelformsteine ergaben sich auch völlig
eigenständige Zierformen und Muster.
Konstruktionsweise
Auch der Fachwerkbau, der schon seit den Römern bekannt ist, kann als
serielle Bauweise bezeichnet werden. Als Skelettbau basiert er auf einem
Raster aus Quer- und Längsrahmen, den sogenannten Bundebenen. Diese
Bundebenen bilden nicht nur die Außenwände des Gebäudes sondern bestimmen
im wesentlichen auch die Lage der Innenwände und damit auch die Raumgrößen
eines Hauses. Unter Berücksichtigung der konstruktiven Bedingungen sind die
Bundebenen variabel.
Die gesamte Fachwerkkonstruktion eines Hauses wird Bundebene für Bundebene
vom Zimmermann auf einem Richtplatz vorproduziert. Allerdings müssen die
Hölzer dabei individuell aneinander angepaßt werden, da es sich nicht wie
bei modernen Stahlträgern um Normteile handelt. Mit Hilfe einer Numerierung
wird die genaue Lage der Hölzer markiert. Danach werden sie zum Bauplatz
transportiert und dort erneut zusammengesetzt. Es gab Zeiten, in denen
Fachwerkbauten aufgrund der beschriebenen Produktionsweise zum beweglichen
Besitz gezählt wurden, denn die reine Holzkonstruktion konnte jederzeit
wieder ab- und an anderer Stelle neu aufgebaut werden.
All die genannten Beispiele widerlegen das gängige Urteil, daß Serialität
ein modernes Verfahren ist.
Bauaufgabe
Für gleiche Bauaufgaben wurden häufig bestehende Entwürfe wiederholt oder
variiert, sei es als Zitat, als Kopie oder als Serie. Dies gilt vor allem
für das Aufkommen neuer Bauaufgaben, man denke nur an die Bahnhofsbauten
des 19. Jahrhunderts. Besonders anschaulich ist ein Beispiel aus dem
Bereich der Denkmalbauten: Um 1900 entstanden in Deutschland etwa 400
Bismarcktürme, darunter knapp 50 nach einem einheitlichen Entwurf des
Architekten Wilhelm Kreis.[3]
Die Verehrung von Reichskanzler Bismarck hatte schon zu dessen Lebzeiten
Ende des 19. Jahrhunderts begonnen. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den
ersten 15 Jahren nach dem Tod des Kanzlers. Neben den Turmbauten wurden
Äpfel, Heringe, Sonnenblumen, Straßen und Plätze nach Bismarck benannt. Als
“Hüter des Reichs” war Bismarck Ideal- und Kultfigur der Zeit.
Die Turmbauten wurden von Bismarckvereinen betrieben. Ganz wesentlich
förderte aber auch die Deutsche Studentenschaft die Errichtung der Türme.
Sie schrieben 1898 einen Architektenwettbewerb aus, um Bismarck mit einer
mächtigen, überregionalen Aktion zu ehren. Im Ausschreibungstext heißt es:
“Wie vor Zeiten die alten Sachsen und Normannen über den Leibern ihrer
gefallenen Recken schmucklose Steinsäulen auftürmten, deren Spitzen
Feuerfanale trugen, so wollen wir unserem Bismarck zu Ehren auf allen Höhen
unserer Heimat, von wo der Blick über die herrlichen deutschen Lande
schweift, gewaltige granitene Felsensäulen errichten. Überall soll, ein
Sinnbild der Einheit Deutschlands, das gleiche Zeichen erstehen, in
ragender Größe, aber einfach und prunklos, auf massivem Unterbau eine
schlichte Säule, nur mit dem Wappen und dem Wahlspruch des eisernen
Kanzlers geschmückt. Keinen Namen soll der gewaltige Stein tragen, aber
jedes Kind wird ihn dem Fremden deuten können: Eine Bismarcksäule”.[4]
Sieger des Wettbewerbes wurde der Architekt Wilhelm Kreis[5] mit seinem
Entwurf“Götterdämmerung”. Daneben hatte er noch zwei weitere Entwürfe mit
Namen “Eroica” und“Wuotan” eingereicht. Über ganz Deutschland verstreut
wurden 47 Säulen nach dem Typ“Götterdämmerung” gebaut, so z.B. in
Augsburg, Stuttgart, Wuppertal, Hildesheim, Erfurt, Würzburg oder Marburg.
Andere Städte beauftragten regionale Architekten oder variierten die Formen
des Kreis'schen Entwurfs.
Das Beispiel der Bismarcktürme zeigt, daß Serien nicht per se ein
demokratischer Aspekt zugesprochen werden kann. Die Wiederholung
demonstrierte hier eindeutig Macht, Stärke und Überlegenheit.
SERIEN IM UMFELD DER DENKMALPFLEGE
Anhand von zwei Beispielen, einem gotischen Bürgerhaus aus Danzig und
einem barocken Bürgerhaus aus Mainz soll dem Thema der Serie im Umfeld der
Denkmalpflege nachgegangen werden.
Bürgerhaus Danzig
1823 wurde in Danzig ein spätgotisches Bürgerhaus in der Brotbänkengasse
14 abgebrochen. Dies geschah, obwohl man sich des besonderen Werts des
Hauses bewußt war. Bereits 1821, also zwei Jahre vor dem Abbruch war eine
Zeichnung der reich verzierten Fassade im 1. Band der Reihe“Denkmaehler
der Deutschen Baukunst” von Georg Moller veröffentlicht worden.[6] Dieser
Band stellt in etwa 70 Tafeln die“deutsche Baukunst des Mittelalters” vor.
Neben prominenten Kirchenbauten wie dem Wormser Dom, dem Freiburger und dem
Straßburger Münster finden sich nur wenige profane Gebäude. Eines davon ist
das Danziger Haus.
Die Fassade dürfte den Stilformen nach zu urteilen um 1520 errichtet
worden sein. Im unteren Bereich besteht sie fast nur aus Fenstern. Die
Fenstereinfassungen sind aus Sandstein gearbeitet und reich profiliert. Die
Fensterstürze zeigen das Vorhangbogenmotiv und dichtes, plastisch
gestaffeltes Blendmaßwerk. Sowohl das Baumaterial wie auch die Formen sind
für Danzig ungewöhnlich. Man vermutet, daß hier Bauleute aus dem Rheinland
oder aus Flandern am Werk waren.[7]
Die Fassadenzeichnung war durch Vermittlung des Oberpräsidenten der
Provinz Ost- und Westpreußen, Theodor von Schön in die Publikation gelangt.
Auch als der Abbruch des Hauses bevorstand, engagierte sich von Schön
nochmals. Er nahm Kontakt mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III.
auf.[8] Der König kaufte daraufhin die Fassade und ließ sie nach Berlin
transportieren. Dort beauftragte er seinen Baumeister, Karl Friedrich
Schinkel[9] mit dem Wiederaufbau der Originalteile.
Schinkel verwendete das Fassadenmaterial zum Umbau des Kavalierhauses auf
der Pfaueninsel bei Potsdam. Diese Insel liegt mitten in der Havel zwischen
Wannsee und Potsdam. Der König hatte zunächst vorgehabt, die Fassadenteile
freistehend als reine Kulisse aufzustellen. Schinkel, dem dieses Vorgehen
widerstrebte, schlug dagegen vor, die originalen Bauteile dem 20 Jahre
zuvor erbauten Kavalierhaus von Baumeister Ludwig Carl Krüger
vorzublenden.[10]
Das Krügersche Kavalierhaus war ein landwirtschaftliches Nutzgebäude mit
einem eingeschossigen Mittelbau zwischen zwei Türmen gewesen. Vor dem Umbau
besaßen beide Türme jeweils nur zwei Geschosse und waren gleich hoch.[11]
Schinkel blendeten nun dem rechten Turm die gesamte Danziger Fassade vor.
Vergleicht man die ältere Bestandszeichnung mit dem Wiederaufbau, so sieht
man, daß Schinkel weder die Gliederung noch die Proportionen der Fassade
veränderte. Vielmehr paßte er das bestehende Kavalierhaus den Gegebenheiten
der gotischen Fassade an: Der rechte Turm war durch die vorgegebene
Fassadenhöhe sehr hoch geworden. Schinkel stockte deshalb auch den
Mittelbau des Kavalierhauses um 1 ? Geschosse und den linken Turm um zwei
Geschosse auf. Außerdem glich er alle Fassaden den Danziger Formen an.
Dabei unterschied er deutlich zwischen originalen und neuen Teilen, indem
er die neugeschaffenen Dekorationen aus Putz aufstuckieren ließ. Die
originalen Teile blieben so an ihrem Sandsteinmaterial erkennbar. Schinkel
arbeitete also schon damals mit einem Ethos, daß noch für heutige
Denkmalrestaurierungen gilt: Original und Ergänzungen deutlich ablesbar zu
unterscheiden.
Insgesamt kann man die Rettung der Fassadenteile als frühen
denkmalpflegerischen Akt ansehen. Allerding muß man sich bewußt machen, daß
mit der Fassade nur ein Bruchteil des Danziger Bürgerhaus erhalten blieb.
Das komplette Hausgefüge mit seinen Grundrissen und Raumfolgen sowie die
gesamte Ausstattung gingen vorloren. Dabei wurde mit der materiellen
Substanz auch der größte Teil der Geschichte des Hauses und seiner Bewohner
zwischen den Jahren 1520 und 1823 unwiederbringlich ausgelöscht.
Der Umbau des Kavalierhauses dauerte bis zum Jahr 1826. Ausgehend von den
originalen Fassadenteilen hatte Schinkel eine neue Architektur geschaffen.
Der Potsdamer Baukörper hat nichts mehr mit dem Danziger Bürgerhaus zu tun.
Auch tritt der städtische Charakter der Fassade in der neuen
Gesamtkomposition zurück. Das umgebaute Gebäude erinnert vielmehr an einen
neugotischen englischen Landsitz.
In dieser Erscheinung paßt das Kavaliergebäude sehr gut zu den übrigen
romantischen Bauten der Insel. Zu diesen gehört z.B. ein Schloß, das als
bewohnbare Burgruine gestaltet ist oder der landwirtschaftliche Betrieb
einer Meierei in der Form einer gotischen Kapellenruine. Um die Bedeutung
des Kavalierhauses weiter zu steigern, wurde der Ortswechsel der Fassade in
einer Legende zusätzlich überhöht. Man erzählte sich, die Fassade stamme
ursprünglich aus Venedig, sei von dort über Nürnberg, die
mittelalterlichste der deutschen Städte nach Danzig und dann weiter nach
Potsdam gelangt.[12]
Obwohl das gotische Haus aus der Brotbänkengasse 14 nun seit 1823 nicht
mehr in Danzig stand, taucht es weiterhin in Veröffentlichungen über die
Bauwerke der Stadt auf. Abgebildet wird dabei jeweils der Turm des
Potsdamer Kavalierhauses.[13] Der Verlust des Bürgerhauses für Danzig blieb
damit weiterhin im Bewußtsein. So ist es nur folgerichtig, daß man nach der
großflächigen Zerstörung der Danziger Altstadt im Zweiten Weltkrieg nicht
nur kriegszerstörten Gebäude wieder aufbaute, sondern bis zum Jahr 1979
auch das gotische Haus. Die Originalteile auf der Pfaueninsel lieferten ja
eine gute Vorlage für eine Kopie.
So kam es also zur Verdoppelung der Fassade. Und ebenfalls folgerichtig
trägt jeder der beiden Bauten den Namen seiner Herkunft: das Potsdamer
Kavalierhaus wird auch als“Danzig-Haus” bezeichnet, der Nachkriegsbau in
Danzig firmiert unter dem Namen“Potsdam-Haus”.
Das verlorengegangene Hausganze des gotischen Hauses konnte freilich auch
mit der Nachkriegskopie nicht mehr zurückgeholt werden. Nur das optische
Straßenbild wurde wieder hergestellt. Allerdings scheint das gotische Haus
nicht mehr am alten Standort zu stehen, sondern um ein Grundstück versetzt
neu errichtet worden zu sein. So lautete die alte Adresse Brotbänkengasse
14, während der Neubau die Hausnummer 13 trägt.[14]
Solche Veränderungen kommen bei Wiederaufbauten, Rekonstruktionen oder
Kopien häufig vor. Trotzdem wird unter dem Begriff“originalgetreu”
üblicherweise die absolute Übereinstimmung der neuen Teile mit einem
Original behauptet. Meist ist jedoch schon die Abstimmung schwierig, was
überhaupt als Originalgebäude zu definieren ist. Es erweist sich auch immer
wieder, daß die Möglichkeit für Veränderungen während eines Neubaus viel zu
verführerisch ist, als daß sie nicht auch genutzt würde. Das folgende
Beispiel aus Mainz wird dies deutlich zeigen.
In Bezug auf das Thema Serie kann man für das Danzig-Potsdam-Beispiel
folgendes festhalten: Das gemeinsame Merkmal des 1823 abgebrochenen
Originalgebäudes, des Kavalierhauses und des Nachkriegsneubaus ist die
Gestaltung der Fassade. Der Bezugspunkt für die beiden letzten Bauten ist
der nicht mehr existierende gotische Erstbau. Die Fassade dieses Erstbaus
ist gewandert und sie hat sich verdoppelt. Das gotische Bürgerhaus wurde
zum Ursprung einer Serie mit den Variationen Turm eines neogotischen
Landhauses und Wohngebäude der Nachkriegszeit.
Hinzuzufügen ist noch, daß das Danziger Beispiel kein Einzelfall ist. So
nutzte man etwa Bauwerke von regionaler und stilgeschichtlicher Bedeutung,
die bereits vor dem Krieg in das polnische Freilichtmuseum Olstynek
translozierte worden waren, als Vorlagen für Kopien dieser Häuser in den
kriegszerstörten Herkunftsstädten und -dörfern.[15] Auch diese Bauwerke gibt
es mittlerweile also zweimal. Polemisch gesprochen fungierte das
Freilichtmuseum hier wie ein Magazin von Druckstöcken zur Herstellung neuer
Abzüge.
Bürgerhaus Mainz
Eine weitere Serie im Umfeld der Denkmalpflege entwickelte sich aus dem
Mainzer “Haus zum Fuchs”.[16] 1983 wurde an der nördlichen Marktplatzseite
von Mainz die Variante III dieses Gebäudes erstellt.
Bei der historisch anmutenden Häuserzeile am Mainzer Marktplatz handelt es
sich um eine reine Fassadenarchitektur. Sie kaschiert die in den fünfziger
Jahren hier errichteten Nachkriegsbauten. Ähnlich wie in Frankfurt oder
Hildesheim war auch in Mainz Ende der siebziger Jahre die Unzufriedenheit
mit den nüchternen Rasterfassaden der Fünfziger-Jahre-Architektur soweit
angewachsen, daß man Wettbewerbe zur Rehistorisierung der zentralen Plätze
ausschrieb. In Frankfurt betraf die Neugestaltung den Römerberg,[17] in
Hildesheim den Marktplatz mit dem Knochenhauer-Amtshaus.[18] Von
Rekonstruktionen kann man aufgrund der großen Veränderungen, die im Zuge
der Baumaßnahmen durchgeführt wurden, in all diesen Fällen nur sehr bedingt
sprechen. Am Beispiel des Haus zum Fuchses wird dies besonders deutlich. Es
steckt ein nicht lösbarer Widerspruch in dem Wunsch, Geschichte neu zu
produzieren.
Der Ursprungsbau des Haus zum Fuchs, Variante I stand in der
Augustinerstraße 67, die in der Mainzer Altstadt südlich des Domes liegt.
Die neue Variante III am Mainzer Marktplatz befindet sich dagegen auf der
Nordseite des Domes.
Beim Ursprungsbau handelte es sich um ein barockes Gebäude, das in der 1.
Hälfte des 18. Jahrhunderts erbaut wurde. Eine um 1900 angefertigte
Rekonstruktionszeichnung dokumentiert den Bauzustand am Ende des 18. Jh.
Sie läßt zusammen mit historischen Photographien noch einige Rückschlüsse
zur Baugeschichte zu: Im 1. Obergeschoß deuten Pilaster und ein
horizontales Abschlußgesims darauf hin, daß das Gebäude ursprünglich nur
zweigeschossig war. Über dem Gesims folgte vermutlich direkt das Dach.
Bestätigt wird diese Annahme durch archivalische Quellen, die von einer
Aufstockung in den achtziger Jahren des 18. Jh. berichten.[19] Das Haus zum
Fuchs I erhielt also erst in dieser Zeit sein drittes Geschoß. Im späteren
19. Jh. kam dann noch ein viertes, durch Fotos dokumentiertes Geschoß
hinzu.
1903 fiel das Haus zum Fuchs I einer Straßenverbreiterung im Zusammenhang
mit dem Ausbau der Straßenbahn zum Opfer. Ähnlich wie im Fall des Danziger
Hauses war man sich auch in Mainz des kunsthistorischen und
stadtbaugeschichtlichen Wertes des Gebäudes bewußt.[20] Dies gilt besonders
für die Schaufassade mit ihrer feinen Steinmetzarbeit und dem in Mainz nur
sehr selten vorkommenden Mittelerker. Deshalb baute man vor dem Abbruch die
Werksteinteile auf Antrag des Denkmalpflegers aus und lagerte sie für eine
künftige Wiederverwendung ein.
Nur wenige Jahre nach dem Abbruch, um das Jahr 1906 herum, wurde ein neues
Beamtenwohnhaus am südwestlichen Altstadtrand von Mainz geplant. Dabei
entschloß man sich, die geborgenen Steinteile an einer Front des Neubaus zu
verwenden. So entstand unter Planung von Regierungsbaumeister Kurt Röhrich
die Variante II des Hauses zum Fuchs mit der neuen Adresse Kästrich 1. Es
handelte sich bei diesem Bauprojekt jedoch nicht um eine Kopie oder eine
Rekonstruktion des Ursprungshauses, sondern um eine freie Komposition, die
sich nur an den geborgenen Originalteilen zu orientieren hatte. Auf die
Verwendung der älteren Versatzstücke wurde außerdem explizit auf einer
Tafel im Treppenhaus des Neubaus hingewiesen.[21]
Da die Fassade am Kästrich breiter war als die des Ursprungsgebäudes,
fügte man beidseitig des Erkers zusätzliche Pilaster ein. Alle Pilaster zog
man nun bis zum Traufgesims des 3. Obergeschosses hinauf - man
beabsichtigte ja nicht, die Baugeschichte des ersten Hauses zum Fuchs
nachzubauen, sondern bemühte sich um eine folgerichtige und regelmäßigere
Gliederung der neuen Fassade. Den Mittelteil betonte man mit einem neuen
Zwerchhaus. Auch im Erdgeschoß schuf man eine an den neuen Bedürfnissen
orientierte Fenstergliederung, die nichts mehr mit dem Haus zum Fuchs,
Variante I zu schaffen hat.
Die Planungen zur Rehistorisierung des Mainzer Marktplatzes begannen im
Jahr 1975. Von Anfang an wurde innerhalb einer barocken Häuserzeile der
Nachbau des Hauses zum Fuchs vorgeschlagen, obwohl es nie am Marktplatz
gestanden hatte. Da die Fassade des Hauses zum Fuchs III einem bestehenden
Fünfziger-Jahre-Bau vorgeblendet wurde, mußten auch hier die Proportionen
verändert werden. Dabei orientierte man sich jedoch nicht an den
Photographien oder Zeichnungen der Variante I, die mit einer Breite von ca.
9 Metern viel eher mit der neuen Fassadenbreite von ca. 10,8 Metern
übereingestimmt hätte, sondern man modifizierte den freien Fassadenentwurf
der Variante II vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieser besitzt eine Breite
von insgesamt 15,9 Metern. Man mußte also die gesamte Gliederung um gut
fünf Meter enger zusammen schieben. Deshalb reduzierte man die äußeren
Doppelfenster zu Einfachöffnungen. Die zusätzlichen Pilaster und die über
beide Obergeschosse reichende Kolossalordnung der Variante II behielt man
dagegen bei. Für die Ladennutzung im Erdgeschoß der Variante III am
Marktplatz vervielfachte man einfach das Portal der Variante II zu einer
Rundbogenarkade. Das Ovalfenster im Giebel des Zwerchhauses wurde aus
Platzmangel kurzerhand senkrecht gestellt. Schließlich erhielt sogar der
alte Hausname eine neue Interpretation, indem man den Kopf eines bärtigen
Mannes am Konsolstein des Erkers durch ein Portrait des Mainzer
Oberbürgermeisters Jockel Fuchs ersetzte.
Es wäre also vermessen zu behaupten, der Neubau am Marktplatz spiegle das
Erscheinungsbild eines barocken Gebäudes oder gar das des
verlorengegangenen Hauses zum Fuchs I wieder. Doch ungeachtet aller
Veränderungen wurde die neue Häuserzeile mit der Variante III des Hauses
zum Fuchs als“originalgetreue” Rekonstruktion der historischen
Marktplatzfassade gepriesen und größtenteils auch akzeptiert. Die
Veränderungen erklärte man kurzerhand als nachträgliche Verbesserungen
unserer Zeit.[22]
Die Gebäudeverdoppelungen in Danzig/Potsdam und Mainz wurden im Umfeld der
Denkmalpflege angesiedelt. Dies drückt eine gewisse Hilflosigkeit aus, ganz
unterschiedliche Bestrebungen zu ganz unterschiedlichen Zeiten unter einem
Begriff zu vereinen. Von Schinkel bis in die Gegenwart haben sich die
Standpunkte der Denkmalpflege mehrmals verändert. Doch gibt es auch heute
recht unterschiedliche Strömungen innerhalb und am Rande der Denkmalpflege.
Am deutlichsten hat sich das in den letzten Jahren an den viel diskutierten
Wiederaufbauprojekten wie der Dresdener Frauenkirche oder dem Berliner
Stadtschloß gezeigt.
Auch die beiden vorgestellten Fälle werden von den beteiligten amtlichen
Denkmalpflegern ganz unterschiedlich gewertet. Jerzy Stankiewicz sah 1986
in der Wiedererrichtung des spätgotischen Bürgerhauses in Danzig einen
“Beweis dafür, wie sehr man sich bemüht, die bis heute nicht abgeschlossene
Rekonstruktion der Fassaden der Rechtstadt unter größtmöglicher Wahrung der
authentischen Formen zu betreiben”.[23] In Mainz dagegen wurde die
“Rekonstruktion” des Marktplatzes vehement abgelehnt. So äußerte sich
Magnus Backes als Landesdenkmalpfleger von Rheinland-Pfalz 1984 mit
folgenden Worten:“Wenn solche Bauvorgänge in ihrer Widersprüchlichkeit als
das beurteilt werden, was sie wirklich sind, nämlich einerseits eindeutig
Neubaumaßnahmen unserer Zeit und andererseits Ausdruck der
politisch-öffentlichen Absage an die moderne zeitgenössische Architektur,
so sind sie richtig bewertet. Werden diese Bauvorgänge jedoch als“Maßnahme
zur Erhaltung des historischen Stadtbildes” als“vorbildliche Leistung
moderner Denkmalpflege” oder als“Tilgung von städtebaulichen Sünden der
Nachkriegszeit” gefeiert [...], so äußert sich darin eine völlige
Verkennung historischer Authentizität, eine Abwertung des historischen
Originals [...], ja im Grunde eine “Geschichtsverfälschung”.”[24] Joachim
Glatz, ebenfalls Denkmalpfleger in Rheinland-Pfalz ergänzt dazu:“Die
Denkmalpflege läuft Gefahr, ihre Berechtigung zu verlieren, wenn
“Baudenkmäler” beliebig austauschbar, veränderbar und wiederholbar werden,
wenn man schließlich sogar ohne das Original auskommt”.[25]
In diesem Sinne soll auch der erste Teil des Aufsatztitels“Die
unfreiwillige Serie” zu verstehen sein. Unfreiwillig, weil es sich nicht um
geplante, absichtsvolle Serien handelt. Unfreiwillig aber auch, weil diese
Serien - so kurios und witzig sie aus der Distanz betrachtet auch sind -
den geschichtlichen Quellenwert negieren und Denkmalpflege auf die
Oberfläche reduzieren.
Goethes Gartenhaus
Als weiteres Beispiel soll das verdoppelte bzw. verdreifachte Gartenhaus
Goethes in Weimar vorgestellt werden, das“doppelten Lottchen” oder auch
die “doppelte Datsche” wie die Presse titelte.[26]
Anläßlich der Veranstaltungen zum Kulturstadtjahr Weimar 99 entstanden im
Park an der Ilm, nur etwa 100 Meter vom originalen Gebäude entfernt, eine
1:1-Kopie des Gartenhauses und in der Orangerie des Schlosse Belvedere eine
als virtuelles Gartenhaus bezeichnete Computersimulation. Anders als in
Danzig und Mainz wurde in Weimar durch die Kopie und Simulation eine
bewußte, absichtsvolle Serie hergestellt. Es lassen sich drei Motive für
die Vervielfachung nennen: Der Nachbau wurde als Schutzkopie für das
Original benötigt. Die Vervielfachung ließ sich als Event bestens
vermarkten. Schließlich sollte die unmittelbare Nachbarschaft von Kopie und
Original verunsichern und Gedanken über den Themenkreis Authentizität, Aura
und Reproduktion auslösen.
Das Ziel der Vermarktung wurde in jedem Fall erreicht. Herstellung und
Enthüllung der 1:1-Kopie am 12. März 1999 wurden als Event gefeiert. Die
Baustelle hatte man mit dem Kulturstadtlogo, einem verschnürten Päckchen
verkleidet, um die Spannung zu steigern und anläßlich der Enthüllungs-Feier
sprach u.a. der als Fälscher der Hitlertagebücher bekanntgewordene Galerist
Konrad Kujau.[27]
Schon 1932 hatte es einen ersten Nachbau des Gartenhauses gegeben. Auf
einem Postkartenfoto aus diesem Jahr ist die Aktion zweier arbeitsloser
Handwerker festgehalten, die mit einem Goethe-Gartenhaus auf Rädern durch
Deutschland zogen.[28] Für eine weitere Vervielfachung hatte der Architekt
Paul Schmitthenner[29] gesorgt. Orientiert an Goethes Gartenhaus entwarf er
einen Wohnhaustyp, bestehend aus einem einfachen, freistehenden Kubus mit
Walmdach auf einem Gartengrundstück. Diese Hausform entwickelte sich in den
dreißiger Jahren zum Idealhaus des deutschen Bürgertums und wurde vielfach
kopiert.[30]
Die Veranstaltungen zum Kulturstadtjahr 1999 führten zu einem neuen
Reproduktionsboom. Es entstanden nicht nur die 1:1 Kopie und die
Computersimulation in Weimar. Ein von Berufsschülern aus Jena gebautes
Modell des Gartenhauses im Maßstab 1:5 wurde von der“Weimar 1999 -
Kulturstadt Europas GmbH” auf der ITB-Messe in Berlin gezeigt,[31] für 25 DM
ließ sich ein Papiermodell des Hauses erwerben und an der Enthüllungsfeier
nahmen als Gartenhaus verkleidete Personen teil. Dies alles erinnert an den
Bismarckkult zu Beginn des Jahrhunderts, mit dem Unterschied, daß die
Spaß- und Erlebniskultur der neunziger Jahre keine ernsthafte
Glorifizierung mehr betreibt.
Inwieweit das Konzept der Schutzkopie in Weimar aufging, ist fraglich.
Kopien im Maßstab 1:1 zum Schutz der Originale werden mittlerweile häufig
angefertigt. Sehr verbreitet ist es z.B. Steinskulpturen an Kirchenfassaden
oder Brunnen durch Kopien zu ersetzen und die Originale im Gebäudeinneren
oder in Museen vor der Witterung geschützt aufzubewahren. Schon dieses
Vorgehen ist in Denkmalpflegekreisen umstritten, denn es führt nicht selten
dazu, daß die schadhaften und weniger“schönen” Originalteile an Beachtung
verlieren und schließlich ganz verschwinden. Eine zweite Möglichkeit einer
Schutzkopie bietet der Nachbau eines Gebäudes oder eines einzelnen Raumes.
So sind die steinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux, oder die
Iweinfresken in Schmalkalden nur noch in der Kopie für Touristen
zugänglich. Und auch in Pompei wird erwogen, eine begehbare Kopie zu
errichten, die das Original vor zu starker Benutzung und Abnutzung bewahren
soll.
In Weimar waren sowohl das originale Gartenhaus als auch die Kopie für
Besucher offen, wobei die Öffnungszeiten des Originals etwas eingeschränkt
wurden. Im Hinblick auf die Schutzfunktion der Kopie hat das werbewirksam
vermarktete Ereignis der Verdoppelung eher kontraproduktiv gewirkt. Durch
die Verdoppelung und Verdreifachung des Gartenhauses haben sich die
Besucherzahlen vervielfacht. So wird das Original nun eventuell stärker
belastet, als ohne Errichtung der Kopie.
Auch mußte schon bald die Schutzkopie vor den Besuchern geschützt werden.
Hatte man zur Eröffnung damit geworben, in der Kopie sei alles genau so,
wie im Original, der einzige Unterschied sei, man könne hier alles
anfassen, so mußte man doch schon nach kurzer Zeit zur gängigen
Museumspraxis zurückkehren und das Anfassen verbieten. Die mit hohem
finanziellen Aufwand kopierten Ausstattungsstücke hatten sich zu schnell
abgenutzt.[32]
Einen Beitrag zur Diskussion um die Themen Kopie, Reproduktion, Klon,
Original und Authentizität hat das doppelte Gartenhaus sicherlich geleistet.
Allerdings zeigen die Texte im Vernissage-Heft zum Thema,[33] wie
unterschiedlich die Begriffe “Original” und“originalgetreu” definiert
werden können. So wird etwa erklärt, daß Gartenhaus I sei schon lange kein
Original mehr, da es im Laufe seiner Geschichte vom 16. Jahrhundert bis
heute mehrmals verändert worden sei. Auch sei Authentizität generell eine
Projektion von Echtheit, Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit und so nicht
unbedingt an originale materielle Substanz gebunden.[34] Und es wird mehrfach
betont, daß die Kopie des Gartenhauses bis in das kleinste Detail der
Schrammen an den Möbeln absolut identisch mit dem Original sei.
Dies ist nun aus Sicht der Bauhistorikerin nicht so. Die Kopie betrifft
nämlich nur die Oberfläche. Da das Gartenhaus II in den nächsten Jahren auf
Wanderschaft gehen soll, z.B. zur Expo 2000 nach Hannover, wurden die Wände
aus demontierbaren Holzbauteilen hergestellt.[35] Bei einer bauhistorischen
Untersuchung, die sich nie allein auf die Oberfläche verläßt, könnte also
schon nach kurzer Zeit festgestellt werden, daß die Wände aus modernen
Holzfaserplatten bestehen, es sich also in keinem Fall um Goethes
Gartenhaus handeln kann. Wahrscheinlich ließe sich das schon allein durch
Klopfen gegen die Wände oder durch die Schrittgeräusche beim Begehen
bemerken.
Bei einer bauhistorischen oder archäologischen Untersuchung des
Gartenhauses I hingegen ließen sich sicherlich noch einige seiner Bauphasen
aufdecken und damit Teile seiner Geschichte klären.
Michaelertrakt an der Wiener Hofburg
Um nun am Ende vollends ein Verwirrspiel mit dem Originalbegriff zu
betreiben, sei ein letztes Beispiel genannt.
In den 1720er Jahren entwarf der Baumeister Joseph Emanuel Fischer[36] von
Erlach am Michaelerplatz einen neuen Bautrakt für die Wiener Hofburg. Nur
ein Flügelbau wurde errichtet. Der übrige Entwurf blieb zunächst
unausgeführt, wurde jedoch durch einen Kupferstich Salomon Kleiners 1733
veröffentlicht. Der preußische König Friedrich II. sah den Entwurf und
beschloß kurzerhand, ihn in den 1770er Jahren beim Neubau der Königlichen
Bibliothek in Berlin umzusetzen. Diese Idee wurde verwirklicht und das
Gebäude entstand in einer kurzen Bauzeit zwischen 1774 und 1780. Der Wiener
Michaelertrakt wurde dagegen erst in den letzten Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts nach den alten Plänen Fischer von Erlachs errichtet.[37]
Man könnte also sagen, die Kopie in Berlin sei rund 100 Jahre vor dem
Original in Wien errichtet worden. Oder war es so, daß Maria Theresia die
Wiener Michaelerfront nach Errichtung der Berliner Bibliothek nicht mehr
vollenden lassen konnte, da es bedeutet hätte, die Kopie eines preußischen
Gebäudes zu bauen? Und brauchte es den zeitlichen Abstand und das Aufkommen
des Historismus, um in Wien die Planungen Fischer von Erlachs zu vollenden?
Gibt es also gar kein Original des Michaelertraktes sondern nur eine Kopie
in Berlin und eine in Wien?
Schluß
Der Erhaltung der Originalsubstanz wird in der Denkmalpflege oberste
Priorität eingeräumt. Was ist nun aber diese Originalsubstanz? Für das
Beispiel des Danziger Bürgerhauses scheint die Frage zunächst einfach
beantwortbar zu sein: Das Original war das Ursprungsgebäude in Danzig.
Erhalten blieben davon noch die originalen Teile am Kavaliergebäude auf der
Pfaueninsel. Doch was ist mit dem übrigen Kavaliergebäude, dem Erstbau des
Architekten Krüger, dem Umbau und der Neukomposition Schinkels?
Selbstverständlich handelt es sich dabei ebenfalls um denkmalwerte
Originalsubstanz. Das heißt also, daß in der Denkmalpflege mit dem Begriff
des Originals nicht allein ein Ursprungsbau bezeichnet wird. Daß dies auch
allgemein gilt, läßt sich besonders gut an Goethes Gartenhaus sehen. Würde
man nur den Ursprungsbau als Original akzeptieren, könnte es sich gar nicht
um Goethes Gartenhaus handeln, da das Gebäude bereits Ende des 16.
Jahrhunderts entstand. Von seiner Baugeschichte ist für uns heute vor allem
der Zeitraum zwischen 1776 und 1832, als Goethe das Gebäude umbauen ließ
und nutzte, wichtig. Schon in diesem Zeitraum kam es zu Veränderungen. So
ließ Goethe das Haus um 1820 nochmals renovieren und neu tapezieren. Und
auch die späteren Schichten nach dem Tode Goethes geben Aufschluß über die
bald einsetzende Verehrung des Dichters und die museale Nutzung des Hauses.
All diese Informationen sind im Schichtenaufbau der originalen Substanz
gebunden, sofern nicht durch Renovierungen einzelne Schichten wieder
entfernt wurden, was leider zum Teil für das Gartenhaus und auch für viele
andere Denkmäler zutrifft.
Natürlich kann sich die Einschätzung, welche Phase einer Hausgeschichte
als besonders wichtig erachtet wird, im Laufe der Zeit immer wieder ändern.
Eben deshalb ist es in der Denkmalpflege so wichtig, möglichst keine dieser
Schichten zu entfernen, oder dies jedenfalls nur dann zu tun, wenn eine
Bestandssicherung nicht anders möglich ist.
Als Originalsubstanz wird also die gesamte vielgestaltige Materie eines
Bauwerks aufgefaßt. Ob es sich dabei um ein Denkmal handelt oder nicht, ist
zunächst einmal von anderen Kriterien abhängig, etwa davon, ob es sich um
ein für die Bau-, Kunst- oder Lokalgeschichte wichtiges, aussagekräftiges
Werk handelt. Die Aussagekraft wird nun aber wiederum in wesentlichen
Teilen von der Existenz originaler Substanz bestimmt. So ist der
Informationsgehalt des Mainzer Hauses zum Fuchs III von 1983 hinsichtlich
des vorgespiegelten barocken Zustandes gleich Null. Auch die
wiederaufgebaute Fassade in Danzig besitzt für die gotische Baugestalt nur
die Aussagekraft eines Modells. Beide sind mit ihrer Originalsubstanz
lediglich sehr beredte Beispiele für die Haltung im Städtebau der späten
siebziger und frühen achtziger Jahre und als solche heute keine Denkmäler.
Zusammenfassend läßt sich schlußfolgern, daß der nur schwierig fassbare
und oft mißverstandene Begriff der schützenswerten Originalsubstanz dazu
dient, die als denkmalwert erkannte Materie gegen das Auswechseln, Erneuern
und Kopieren zu schützen, das Denkmal als Quelle und nicht als Abbild zu
erhalten.
[1] Das Thema wurde für einen Vortrag bearbeitet, der auf dem Symposium“Serialität: Reihen und Netze” am 20. November 1999, veranstaltet vom FrauenKulturhaus TheaLit Bremen in der Städtischen Galerie Bremen gehalten
wurde. Der Text stellt eine leicht überarbeitete Fassung des Vortragsmanuskriptes dar.
[2] Otto Nübel: Die Fuggerei. Augsburg 1984.
[3] Günter Kloss und Sieglinde Seele: Bismarck-Türme und Bismarck-Säulen: eine Bestandsaufnahme. Petersberg 1997.
[4] Günter Kloss und Sieglinde Seele: Bismarck-Türme und Bismarck-Säulen: eine Bestandsaufnahme. Petersberg 1997, S. .....
[5] Wilhelm Kreis lebte von 1873 bis 1955. Er war zunächst Assistent bei Paul Wallot, dem Erbauer des Berliner Reichstagsgebäudes. Ab 1902 lehrte er an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule. 1920-26 war er Professor für Architektur in Dresden. 1927 wurde er Präsident der Reichskammer der bildenden Künste. Vor allem seine Denkmalsentwürfe wurden preisgekrönt.
Neben den Bismarcktürmen stammen u.a. das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig (1896-97), das Bismarck- Nationaldenkmal in Bingen (1911), das Warenhaus Tietz in Köln (1912-14) und das Dresdner Hygiene-Museum von Kreis. (Quelle: Nicolaus Pevsner u.a.: Lexikon der Weltarchitektur. München 1992.)
[6] Georg Moller: Denkmaehler der Deutschen Baukunst. Darmstadt 1821. Band
1: Beiträge zur Kenntnis der deutschen Baukunst des Mittelalters enthaltend eine chronologisch geordnete Reihe von Werken aus dem Zeitraume vom achten bis zum 16. Jahrhundert, Tafel 62.
[7] Karl Friedrich Schinkel 1782-1841. Ausstellungskatalog Staatliche Museen zu Berlin, Ausstellung im Alten Museum Berlin vom 23.10.1980 - 29.3.1981. Berlin 1982, S. 206f.
[8] Karl Friedrich Schinkel 1782-1841. Ausstellungskatalog Staatliche Museen zu Berlin, Ausstellung im Alten Museum Berlin vom 23.10.1980 - 29.3.1981. Berlin 1982, S. 206f.
[9] Karl Friedrich Schinkel lebte von 1781 bis 1841. Er gehört zu den größten deutschen Architekten seiner Zeit und gilt auch als Schöpfer der Denkmalpflege in Deutschland. Nach seiner Ausbildung bei Friedrich Gilly, mehreren Entwurfsarbeiten und Bühnenentwürfen ist er ab 1810 in der Verwaltung der Preußischen Baubehörde tätig. 1815 erhält er die Position eines Geheimen Oberbaurats. Im selben Jahr setzt er sich mit einem Memorandum für die “Erhaltung aller Denkmäler und Alterthümer unsers Landes” ein und fordert eine staatliche Behörde für die Belange des Denkmalschutzes. Zur Einsetzung eines ersten Konservators kommt es allerdings erst zwei Jahre nach Schinkels Tod. Zu seinen bekanntesten Bauwerken in Berlin zählen die Neue Wache (1816), das Alte Museum (1822-28), die Friedrich-Werdersche Kirche (1821-30) und die Bauakademie (1836). Auf der Pfaueninsel stammt neben dem Kavalierhaus auch das Schweizerhaus (1829/30) von Schinkel. (Quellen: Nicolaus Pevsner u.a.: Lexikon der Weltarchitektur. München 1992. - Gottfried Kiesow: Einführung in die Denkmalpflege. Darmstadt 1982. - Norbert Huse (Hrsg.): Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten. München 1984.)
[10] Brigitte Stamm: Schinkel in Berlin und Potsdam. Führer zum Schinkeljahr 1981. Berlin 1981, S. 61f. - Karl Friedrich Schinkel. Architektur, Malerei und Kunstgewerbe. Ausstellungskatalog, Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten und Nationalgalerie Berlin Staatl. Museen Preußischer Kulturbesitz. Ort: Orangerie des Schlosses Charlottenburg 13.3. - 13.9.1981, Berlin 1981, S. 160f.
[11] Michael Seiler und Stefan Koppelkamm: Pfaueninsel Berlin. Tübingen 1993, S. 17, Abb. 16
[12] Michael Seiler und Stefan Koppelkamm: Pfaueninsel Berlin. Tübingen
1993, S. 22.
[13] Karl Hauke: Das Bürgerhaus in Ost- und Westpreußen, Tübingen 1967, S. 64f. - Erich Keyser: Danzig. Berlin 1934, S. 79.
[14] Jerzy Stankiewicz: Der Wiederaufbau historischer Ensembles in Danzig nach 1945. In: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1986 in Danzig. Thema: Probleme des Wiederaufbaus nach 1945. Bamberg 1991, S. 14-18.
[15] Wolfgang Deurer: Die polnische konservatorische Schule in ihrer
internationalen Entwicklung und Zusammenarbeit und die Rekonstruktion der Innenstadt von Danzig. In: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1986 in Danzig. Thema: Probleme des Wiederaufbaus nach 1945. Bamberg 1991, S. 20-28, hier: S. 21.
[16] Joachim Glatz: Neu- und Wiederaufbau mit originalen Teilen - noch ein Denkmal?. In: Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz. Kopie, Rekonstruktion, historisierende Erneuerung. Worms 1984, S. 122-132. - Joachim Glatz: Das Haus zum Fuchs in Mainz - ein Baudenkmal und die Folgen. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 42. Jhg., 1984, S. 41-54.
[17] Gottfried Kiesow: Die Neubebauung des Dom-Römerberg-Bereiches in Frankfurt am Main. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 42. Jhg., 1984, S. 2-10.
[18] 16 Achim Hubel (Hrsg.): Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993.
[19] Joachim Glatz: Das Haus zum Fuchs in Mainz - ein Baudenkmal und die Folgen. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 42. Jhg., 1984, S. 42.
[20] 18 Joachim Glatz: Das Haus zum Fuchs in Mainz - ein Baudenkmal und die Folgen. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 42. Jhg., 1984, S. 41 und Anm. 6.
[21] Joachim Glatz: Das Haus zum Fuchs in Mainz - ein Baudenkmal und die Folgen. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 42. Jhg., 1984, S. 44 f. Der Text auf der Tafel lautet: “Dieses Haus wurde vom hessischen Staate durch das Großherzogl. Hochbauamt Mainz in der Zeit vom 18. Sept. 1907-1.Okt 1908 zum Ersatz für die an die Stadt Mainz verkaufte vormalige Militärkommandokaserne, Alte Universitätsstraße 9, als erstes Wohngebäude auf dem zur Bebauung aufgelassenen Festungsgelände am ehemaligen Gautor errichtet. In seiner Fassade wurden die kraft des Hessischen Denkmalschutzgesetzes erhalten gebliebenen Architekturteile, insbesondere Erker und Portal des aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts stammenden und im Jahre 1904 [tatsächlich im Dezember 1903] niedergelegten Stöckner'schen Hauses Augustinerstraße 67 eingebaut. - Kurt Röhrich, Großh. Regierungsbaumeister.”
[22] Joachim Glatz: Das Haus zum Fuchs in Mainz - ein Baudenkmal und die Folgen. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 42. Jhg., 1984, S. 50.
[23] Jerzy Stankiewicz: Der Wiederaufbau historischer Ensembles in Danzig nach 1945. In: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1986 in Danzig. Thema: Probleme des Wiederaufbaus nach 1945. Bamberg 1991, S. 16.
[24] Joachim Glatz: Das Haus zum Fuchs in Mainz - ein Baudenkmal und die Folgen. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 42. Jhg., 1984, Vorbemerkung S. 41
[25] Joachim Glatz: Das Haus zum Fuchs in Mainz - ein Baudenkmal und die Folgen. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 42. Jhg., 1984, S. 51 f.
[26] Der Tagesspiegel, 6.4.1999. - Berliner Zeitung, 15.3.1999.
[27] Thüringische Landeszeitung, 9.3.1999. - KULTUR, 5.3.1999.
[29] Paul Schmitthenner lebte von 1884 bis 1972. Als Mitarbeiter des
Architekten Richard Riemerschmid, München und am Reichsamt des Inneren war er zu Beginn seiner Architektentätigkeit vielfach mit der Planung von Gartenstädten betraut. Von 1918 bis 1945 war er Ordinarius am Lehrstuhl Baukonstruktion und Entwerfen an der Technischen Hochschule Stuttgart. Zusammen mit Paul Bonatz und Heinz Wetzel begründete er dort die“Stuttgarter Schule”, die für eine traditionsgebundene Moderne eintrat. (Quelle: Marc Hirschfell: Der Königin-Olga-Bau von Paul Schmitthenner. Ein Stuttgarter Bankgebäude im Brennpunkt des Wiederaufbaus. Tübingen und Stuttgart, 1994.)
[30] Wolfgang Voigt: Vom Ur-Haus zum Typ. Paul Schmitthenners“deutsches Wohnhaus” und seine Vorbilder. In: Vittorio Magnago Lampugnani und Romana Schneider (Hrsg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900-1950. Reform und Tradition, Ausstellungskatalog, Frankfurt 1992, S. 133-149.
[32] Kulturberichte 1/99 (www.aski.org/kb1_99/kb199wei99b.htm). – Christina Tilmann: Dichter und Wahrheit. In: Der Tagesspiegel, 6.4.1999: “Über viertausend Besucher hat die Kopie in den ersten vier Wochen gesehen. Da werden Schubladen auf- und zugezogen, die Bequemlichkeit des “Esels”, des Hockers vor Goethes Stehpult getestet und im Gästebuch begeistert vermerkt: “einmal auf Goethes Bett zu sitzen”. Kein Wunder, daß die Möbel schnell Benutzungsspuren zeigen - die “geplanten” Spuren drohen von der Wirklichkeit überholt zu werden. “Wir bitten, von der Versetzung oder Benutzung des Inventars Abstand zu nehmen”, sah sich die Hausverwaltung genötigt einzugreifen, was von den Besuchern höhnisch kommentiert wird:“Schön, daß die Musealität des Originals gleich mitkopiert wurde”.
[33] Die Klassische Kopie. Goethes zweites Gartenhaus im Park an der Ilm, Weimar vom 12.03.-31.10.1999, Vernissage Nr. 5/1999, 7. Jhg.
[34] Lorenz Engell, Von Goethes Gartenhaus zu Mc Goethe. In: Die Klassische Kopie. Goethes zweites Gartenhaus im Park an der Ilm, Weimar vom 12.03.- 31.10.1999, Vernissage Nr. 5/1999, 7. Jhg., S. 14-21, hier: S.14.
[35] Volker Laier und Kristina Kuhnhen: Von den Mühen des Nachbaus: Goethes zweites Gartenhaus. In: Die Klassische Kopie. Goethes zweites Gartenhaus im Park an der Ilm, Weimar vom 12.03.-31.10.1999, Vernissage Nr. 5/1999, 7. Jhg., S. 33- 37. - Robert Ernst: Die Kopie. Ein Lehr- und Lerngegenstand der besonderen Art. In: ebenda, S. 48-57.
[36] Joseph Emanuel Fischer von Erlach lebte von 1693 bis 1742. Er war der Sohn des berühmten österreichischen Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach. (Quellen: Nicolaus Pevsner u.a.: Lexikon der Weltarchitektur. München 1992.)
[37] Der Michaelerplatz in Wien. Seine städtebauliche und architektonische Entwicklung. Ausstellung im Looshaus Wien 13.12.91-15.2.92, S. 24-26, Kat.Nr. 32 und 71. - Richard Borrmann: Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin. Berlin 1893, S. 329-332.