Doris Köhler und Ulrike Bergermann am 21.11.1999,
Thealit-Symposium Serialität: Reihen und Netze, Bremen
Nichtlinear oder multilinear?
Fäden und Strömungen in "TwelveBlue" von Michael Joyce
Einleitung
Was hat Hypertext mit Serialität zu tun?
Einem traditionellen Konzept zufolge – das sich so zwar nie durchhalten ließ und schon immer zu Gegenkonzepten herausgefordert hat, das aber dennoch wirksam ist - ist 'Lesen' (vor allem das Lesen von Literatur, weniger das Lernen von Gedrucktem) gerade kein serielles Erlebnis, sondern ein individuelles, subjektives, einmaliges, mit dem Ziel, in den Text einzutauchen, anstatt sich in eine Position dazu zu versetzen, die erst im Abstand ggf. mehrere (serielle) Teile rezipieren kann - das Werk soll eine Einheit sein, die linear und ohne Wiederholung zu verschlingen ist. Dem entspricht die Vorstellung, daß hinter dem Text eine Quelle, ein Autor steht, also eine Vorstellung von persönlicher statt maschineller Produktion.
In einem Hypertext liegen die Texte ausschließlich in Teilen vor, und deren Anordnung, die Reihenfolge beim Lesen, ist nicht mehr vorgegeben. Daher werden sie als "nicht-linear" bezeichnet.[1]
Denn das Hypertext-Lesen beruht auf einer maschinellen Grundlage, und schon damit kommt zumindest eine Assoziation von Automatik und Serialität ins Spiel (ob es mehr ist als eine Assoziation, wird zu diskutieren sein), weil dem Maschinellen quasi "automatisch" etwas Serielles anhaftet (wie die Seriennummer dem Gerät): durch das Normierte der Darstellungsmodalität und–materialität, durch das Wissen um die identische Vervielfältigung unendlich vieler Kopien (die elektronisch und im Internet tatsächlich potentiell unendlich viele sind, im Gegensatz zum Buchdruck).
Die Einheit des Werks wird durch die Textvariationen und die Tatsache, daß nicht alle Knoten gelesen sein müssen, um eine Lektüre abgeschlossen zu haben, fragwürdig. Und:
Wenn mehrere verschiedene Lektüren eines Hypertextes nicht nur möglich, sondern sogar nötig sind, um Versionen kennenzulernen, sind Wiederholungen unvermeidlich (da entweder ein Abbruch des Lesefadens eintritt oder aber wenn mehrfaches Lesen erwünscht ist, um verschiedene Versionen zu sehen). Dabei wiederholt sich ein Textteil, der durch anderen Kontext und/oder Wissen der LeserIn nicht mehr mit dem zuerst gelesenen identisch ist.
Wie liest man also Hypertext, der doch gerade das Sukzessive des Lesens bearbeitet und ein potentielles Nebeneinander aller Textteile bereitstellt, die zwar sukzessive, aber ohne die der Sukzessivität bis dahin innewohnende Kausallogik gelesen werden? Ist Hypertext mehrdimensional?
Serie ist, wenn sich etwas wiederholt, sich etwas ähnelt, also ein Verhältnis von Gleichheit und Differenz besteht, das sich zeitlich nacheinander wahrnehmen läßt (wie eine Reihe von Fernsehfolgen) - aber oder auch räumlich, mehrdimensional, z.B. als Netz. Hypertext funktioniert insofern als serielles Objekt, als sich solche Verhältnisse auf das Lesen beziehen lassen, das eine Anordnung von Hypertextteilen in der Zeit (und insofern linear) vornimmt; wenn man aber auf die Art und Weise sieht, in der das so gelesene Material vorliegt, passen die Modelle von Serie und Linearität nicht mehr, einfach weil die Textteile nicht mehr "hintereinander" vorliegen.
Um dennoch eine Anordnung zu visualisieren, die materiell so gar nicht mehr vorliegt, werden maps, Grafiken usw. zur Orientierung eingerichtet, die oft Mehrdimensionalität abzubilden versuchen.
Insofern diese maps funktionieren, müssen sie also etwas wiederholen, einer Struktur ähneln. Hier haben wir eines von mehreren merkwürdigen Entsprechungsverhältnissen, die Hypertext auszeichnen.
Ein anderes, das für alle Hypertextsorten gilt, ist das Verhältnis von "Theorie" und "dem konkreten Hypertext". In der Hypertexttheorie, wie sie um George P. Landow Anfang der 90er Jahre ausgerufen wurde, gilt Hypertext als die "Verkörperung" postmoderner oder dekonstruktiver Ansätze nach Derrida, Kristeva, Cixous u.a.. Diese Rede von der "Verkörperung" (auch als convergence, das Zusammenfallen von Gegensätzlichem, gefaßt) verspricht eher ein Ende von Wiederholung und Serialität in einer neuen Einheit.
Daß nun diese Vorstellung mit Bildern von Weiblichkeit ausgestattet weden (zumindest was das Genre Hyperfiction angeht), ist bis jetzt weitgehend unbeachtet geblieben; in diesem Zusammenhang wäre meiner Meinung nach auch der Konnex von Weben und Netz zu diskutieren, z.B. wie ihn Sadie Plant im populären nullen+einsen dargestellt hat. Viele Hyperfictionautoren, -autorinnen und–kritikerinnen (Michael Joyce, Carolyn Guyer, Barbara Page u.a.) erklären "die Frau" relativ umstandslos qua Kultur- und Sozialgeschichte inklusive der Biologie als prädestiniert, gewebte, d.h. komplexe Zusammenhänge zu be- und verarbeiten, wie sie etwa das WWW darstellt. Klar ist zunächst: diese eine Sorte von behaupteter struktureller Ähnlichkeit, die "Hypertext" mit einem anderen Feld, in diesem Fall "der Theorie" (über Philosophie und Literaturkritik bis zur Hirnforschung) verbinde, wird nur behauptet, um sie sofort wieder in eine Gleichheit zu überführen.
In der Hyperfiction TwelveBlue von Michal Joyce kommt eine Figur vor, die bei Landow studiert hat. Joyce ist seit seit afternoon. a story (1987) als Autor, aber auch als Literaturwissenschaftler und als Softwaremitentwickler des Hypertextprogramms Storyspace berühmt und geradezu kanonisch geworden, und: hier finden sich verschiedene Wiederholungsmodi im Verhältnis mehrerer Ebenen wieder - im Verhältnis von Inhalt und Struktur, von Bild und Text, von Motiv und theoretischer Metapher, von Poesie und Gebrauchsanleitung. Es gibt z.B. Entsprechungen verschiedener Elemente dieser Bereiche auf struktureller und visueller Ebene, die aus dem semantischen Umfeld von "Weben, Knüpfen, Netz..." usw. stammen. Ein zweiter großer Bereich, der sich in TwelveBlue in Motivik, Bildlichkeit, Farbe und einer metaphorischen Beschreibung des Lesens wiederfindet, schöpft aus dem Feld "Wasser, treiben, schwimmen, tauchen"...
TwelveBlue wiederholt, wie es scheint, die mediale Organisationsform und Strukturiertheit von Hypertext, insofern der Inhalt z.B. vom Eintauchen oder vom Verstricktsein handelt. In Worten und in der Anlage des Textes werden Begriffe genannt, die Varianten von Wiederholungen (zwischen 'Literatur' und dem technischen Bezugsrahmen) sind. ("When we look at the whole of such a nonlinear text, we cannot read it; and when we read it, we canot see the whole text." (Aarseth)[2])
Ich fasse vorerst zusammen:
Hypertext ist seriell, insofern...
- er elektronisch vervielfältigt wird, ein Massenprodukt ist (vergleichbar dem Buch)
- Textblöcke sich wiederholen, entweder intern/programmiertermaßen oder beim mehrfachen Lesen (das fast immer von vorne beginnen muß)
-ggf. eine Reihe verschiedener Lektüren eines Hypertextes eine Serie ergibt (nicht von identischen Texten, aber von ähnlichen/teilidentischen/ aufeinander bezogenen)
- jede Lektüre anders ist.
(Michael Joyce nennt übrigens Hypertext ausdrücklich nicht seriell, sondern "struktural" und "zyklisch".[3]
Und Hypertext ist nicht seriell, insofern...
- er nicht linear ist, was die Abfolge der Textteile angeht (das Lesen und seine jeweilige Anordnung von Knoten in der Zeit läßt sich immer noch als linear bezeichnen, aber die Speicherungsform ist es nicht mehr)
- die Struktur eines Hypertextes eher als 3D-Netz visualisierbar ist als als eine Abfolge in 2D - diese Mehrdimensionalität stellt den seriellen Anteil der Wahrnehmung in Frage
- jede Lektüre anders ist.
Das heißt: hier ist eine Frage eröffnet, nur um sie sofort in Widersprüche und Unentscheidbarkeiten zu führen – es gibt einen besonderen Bezug von Hypertext zu Serialität, vielmehr: mehr als einen.
Ulrike Bergermann
[1] Z.B. wie bei Espen J. Aarseth: Nonlinearity and Literary Theory, 51: "A nonlinear text is an object of verbal communication that is not simply one fixed sequence of letters, words, and sentences but one in which the words or sequence of words may differ from reading to reading because of the shape, conventions, or mechanisms of the text."
[2] Weiter: "Something has come between us and the text, and that is ourselves, trying to read. This self-consciousness forces us to take responsibility for what we read and to accept that it can never be the text itself." Ebd.
[3] Michael Joyce, Of Two Minds: Hypertext Pedagogy and Poetics, www.press.umich.edu/bookhome/joyce/intro.html#part1 (dort datiert 1995, gesehen am 5.12.1998).